Fragt man in Frankreich nach einem empfehlenswerten Buch bekommt man in 50% der Fälle
No und Ich empfohlen. Ob das stimmt weiß ich nicht aber glaubt man der Marketingabteilung von Droemer war dieses Buch, von der Autorin mit dem wohlklingenden Namen Delphine de Vigan, das Lieblingsbuch 2008 der französischen Buchhändler.
No und Ich…Ich ist in diesem Fall die, in Paris lebende, dreizehnjährige Lou die sich nicht nur mit den altersbedingten Problemen des Erwachsenwerdens herumschlagen muss sondern auch noch den Fluch der Hochbegabung mit sich rumträgt. Nach dem sie 2 Klassen übersprungen hat sitzt sie mitten unter 15-16 Jährigen. Von ihr wird immer erwartet alles perfekt zu beherrschen, immer alles richtig und auf jede Frage die passende Antwort parat zu haben. So auch auf die Frage ihres gestrengen Klassenlehrers welches Thema sie sich für das anstehende Referat ausgesucht habe.
Weniger geplant sondern eher aus einem Impuls heraus antwortet sie daß sie Obdachlosigkeit wählen wird. Sie will in einer Interviewreihe mit einer Obdachlosen die Gründe und Lebensumstände beleuchten die zu so einem Schicksal führen können.
Erst vor einigen Tagen hat Lou am Bahnhof die achtzehnjährige No kennen gelernt. Eine Ausreißerin die auf der Straße lebt und sich versucht von einem in den anderen Tag hinein zu retten. Genau jene No will Lou interviewen um an ihr Material für das Referat zu kommen. Die beiden Verabreden sich mehrmals und lernen sich besser kennen. No erzählt ihr von ihrem misslungenen Leben und wie es kam das sie jetzt Heimatlos sei. Natürlich geht auch diese Zeit mal rum und Lou fängt immer mehr an Mitleid mit No zu haben so daß sie am Ende, nach dem das Referat fertig und benotet war, No einfach zu sich Nachhause einlud um ihr nicht nur für einige Tage Obdach zu gewähren sondern um ihr auch wieder zurück zu helfen in ein normales Leben.
Dreizehn Jahre ist wieder so ein neuralgisches Alter für Schriftsteller die beabsichtigen durch den Mund eines fast/noch Kindes dem Leser etwas über das Leben da draußen erzählen zu wollen. Im schlimmsten Falle klingt es dann als ob man einem Hundertjährigen zuhört. Und sich immer nur auf die Formel
-Kinder und Narren sagen meist die Wahrheit- rauszureden ist mittlerweile auch nicht mehr sonderlich kreativ. Da kommt es de Vigan gerade recht das Lou hochbegabt ist, Wörter sammelt und auch noch eine leidenschaftliche Beobachterin ihrer Umgebung ist.
Mit diesem Handwerklichen Kniff kaschiert die Schriftstellerin vortrefflich die Differenz zwischen Alter und tiefgründigeren Gedankengängen.
In Zusammenspiel mit Lous Schrullen und kleinen Macken schafft das Ganze einen sehr ausgewogenen und, ich glaube dies ist wohl das größte Kompliment das man dem Buch machen kann, glaubwürdigen Charakter.
Auch No, mit ihrer anfänglichen Verschlossenheit, wie verhärmt sie wirkt und bei Lou langsam auftaut und versucht in gewisser Weise ein bisschen Kindheit nachzuholen, wirkt nicht wie ein Charakter von der Stange nur um das Buch zu bevölkern, sondern hat auch ihre eigene Geschichte die, trotz der Sichtweise des Buches, ebenfalls gut zur Geltung kommt.
Zu schreiben daß das Buch voller naiver Weisheiten ist wäre falsch, mehr sind es sehr weise und sehr kleine Naivitäten die man zu lesen bekommt. Dies macht vielleicht auch die Sympathie für dieses Buch im allgemeinen aus.
Mit einem sehr sauberen und schnörkellosen Stil schreibt Delphine de Vigan hier Lous Geschichte nieder, immer mit diesem (fast) perfekten Gespür für die kleinen Situationen die aus den anfänglichen Naivitäten eine bescheidene aber dafür um so fassbarere, echtere (wahrere?) Wahrheit formt.
Lediglich am Ende läuft das Buch Gefahr zu kippen denn auf den letzten 15 Seiten ereignen sich Dinge die nicht ganz so in das Gesamtbild passen wollen. Aber ich kann dahingehend beruhigen das die Autorin zwar etwas schrammt aber doch noch die Kurve kriegt so dass ich hier, guten Gewissens, zur Lektüre der fast genau 250 Seiten, raten kann.
Wem Bücher vergleichbarer Schriftsteller zu theoretisch und tot wirken und wer mittlerweile genug hat vom Zuckerguss mittelmäßiger Glückskekschenphilosophen sollte seine Augen nach dem hier vorgestellten Buch offen halten. Denn wo andere nur trockene Theorie betreiben bietet de Vigan Anschauungsunterricht am lebenden Objekt und beweißt das All Age - Literatur auch ernst und anspruchsvoll sein kann.