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Tolstoi Leo N. - Auferstehung




Tolstoi Leo N. - Auferstehung

Beitragvon mombour » 06.12.2010, 17:26

Leo N. Tolstoi: "Auferstehung"

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In einem Interview in der Süddeutschen Zeiten im Juni 2010 äußerte sich Tolstojs Ur-Urenkel Wladimir Iljitsch zu Leo N. Tolstois religiöser Position:

„Man kann Tolstoi in keine der heutigen Religionen hineinzwängen. Er war im Grunde viel weiter...Er hat nach Möglichkeiten gesucht, die konfessionellen Barrieren zu überwinden..“ (vgl. Seite 27, Nummer 3/2010 der HEFTE zu Ausstellungen im Literaturhaus München, „Ein Licht mir aufgegangen“ - Lev Tolstoj und Deutschland). Schon zur Zeit seines Einsatzes im Krimkrieg dachte Tolstoi über die Idee einer praktischen rationalistischen Religion nach, „die kein künftiges Glück verheißt, sondern Glück auf dieser Erde verheißt"(dto. Seite 28). Intensiv befasste er sich seit 1881 mit Religionen. Seine Schriften „Meine Beichte“ und „Worin mein Glaube besteht“ konnten zu seiner Zeit in Russland nicht erscheinen. In „Meine Beichte“ wandte er sich seiner „neuen geistigen Geburt“ zu und lehnte jeglichen Besitz ab. Ich weiß nicht wann, aber irgendwann, spätestens während seiner Arbeit zu seinem dritten großen Roman „Auferstehung“, muss er auf den amerikanischen Ökonomen gestoßen sein:

Tolstoi hat geschrieben:Das Land kann nicht Gegenstand von Eigentumsrechten, kann nicht Gegenstand von Kauf und Verkauf sein, so wenig wie Wasser, wie Luft, wie die Sonnenstrahlen. Alle haben das gleiche Recht auf das Land und auf die Vorteile, die es den Menschen bietet.


Etwa zehn Jahre arbeitet Tolstoi an „Auferstehung“, Er erschien 1899. Im Jahre 1901 wurde er von der orthodoxen Kirche ausgeschlossen. In dem Roman kritisiert er sehr heftig die Zelebrierung des orthodoxen Gottesdienstes.

Tolstoi hat geschrieben:die größte Lästerung und Verhöhnung des gleichen Jesus sei, in dessen Namen alles geschah.


Tolstoi hat natürlich recht, Jesus war es lieb, wenn sich jemand ohne Prunk in sein Kämmerlein zurückzieht, in die Einsamkeit, und dort betet. Für den Goldprunk einer Ikonostase hätte sich Jesus niemals interessiert. Menschen sind offenbar dazu anfällig, dass sie irgendetwas handfestes/materielles für ihren Glauben brauchen. Darum gibt es auch Ikonen, die das Bedürfnis von Volksfrömmigkeit befrieden.

Der Protagonist des Romans ist der Fürst Dmitri Iwanowitsch Nechljudow, der als Geschworener in einer Gerichtsverhandlung erkennt, dass er Schuld am schweren Schicksal einer jungen Frau trägt, die er, als sie sechzehn Jahre alt war, verführt hatte. Er trägt die Schuld, dass sie, Maslowa, zu einer Prostituierten wurde, sie nun von diesem Gericht aufgrund eines angeblich begangenen Giftmordes zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden ist. Da es sich um ein Fehlurteil handelt, welches aus Schlamperei und Unaufmerksamkeiten während der Verhandlung zustande gekommen war, will Nechljudow eine Kassation dieses Urteil erreichen. Er ist schuldig an ihrem verdorbenen Leben und will seine Schuld sühnen.

Nechljudow hinterfragt sein bisheriges Leben, auch sein Reichtum, seine Erbschaft. Er will sein Leben umkrempeln, nimmt sogar die Idee auf, Maslowa evtl. zu heiraten und erkennt, dass er ein „liederlicher Mensch sei.“ Nur durch solch eine Bewusstwerdung und Umarmung seines Leides, wird er wohl zu einer Reinigung, d.h. Bewusstwerdung seines geistigen Wesens, kommen. Ja wirklich, Tolstoi wird in diesem Roman recht spirituell und erinnert mich ein wenig an den Buddhismus. Das Leid erkennen, die Ursachen des Leides erforschen, und dann das Leid umwandeln in Freude. Allerdings bei Tolstoi die Schuldfrage in den Mittelpunkt gerückt wird, dadurch der christliche Aspekt der Schuldvergebung ins Zentrum rückt. Überkonfessionell spirituell gilt aber das, was Tolstoi über die Liebe sagt.

Tolstoi hat geschrieben:..die Liebe zu allen und zu allem, nicht nur zu dem Schönen, Guten, das es in der Weld gibt, sondern auch zu jenem Bettler, den sie geküßt hatte.


Interessant das Nechljudow diese Erkenntnis allumfassender Liebe während der Ostermesse gewinnt. Als „Auferstehung“ wird im Roman die Umwandlung vom animalischen zum geistigen Menschen verstanden. Daher rührt der Romantitel.

Das andere große Thema ist die Aufdeckung unsäglicher Missstände und Schlamperei russischer Justizbehörden. Viele Menschen sitzen unschuldig in Gefängnissen. Die Bloßstellung der Verruchtheit des russischen Beamtenwesens gehört zu den Glanzstücken des Romans.

Tolstoi hat geschrieben:Es war klar, daß das, was für wertvoll und gut gehalten wird, nichtig und abscheulich ist und daß all dieser Glanz, all diese Pracht nur alte Verbrechen verdeckt....


Einzelne Beamte sind wie ein Zahnrad in einem ganzen Systems, in dem die Beamten das Mitgefühl, die Menschlichkeit ausgeblendet haben. Die Liebe ist das wichtigste überhaupt, die allumfassende Liebe, das große Stück Kuchen von Menschlichkeit. Weil in dieser Bürokratie diese Menschlichkeit fehlt, passieren all die Katastrophen und Ungerechtigkeiten, darum Tolstoi diesen Roman wohl überhaupt geschrieben hat. Wie bei Dostojewskij geht es um Schuld und Sühne. Ich verweise auf ein Zitat, welches Tolstoi vor Romanbeginn als Motto anführt:

Tolstoi hat geschrieben:Da trat Petrus zu ihm und sprach: "Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der zu mir sündiget, vergeben?. Ist's genug siebenmal?" Jesus sprach zu ihm: "Ich sage, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Matth. XVIII,21/22


Wenn ein Mensch die allumfassende Liebe in sich verwirklicht hat, kann er immer vergeben, weil er liebt. Das ist ein elementarer Bestandteil des Christentums. Davon handelt der Roman. Nechljudow ist bisher immer noch dieser Mensch, der nach diesen Idealen strebt, auf diesem Weg er sein Gewissen reinwaschen will, nicht aus persönlichen Gründen, sondern wegen Gottes Gerechtigkeit. Die russische Bürokratie ist demnach gottlos. Wenn die Liebe da wäre, würden einzelne Offiziere Gefangene nicht quälen. Wenn wir dem Apostel Paulus glauben schenken wollen, taugt der Mensch nicht viel, wenn er keine Liebe hat.

Und dann kommt der herrliche Satz, den auch der Apostel Paulus hätte predigen können:

Tolstoi hat geschrieben:Wenn es möglich wäre anzunehmen, daß irgend etwas ...wichtiger ist als das Gefühl der Menschenliebe, sei es auch nur für eine Stunde und nur in irgendeinem einzigen Ausnahmefall, so gebe es kein einziges Verbrechen, das man nicht ohne sich für schuldig zu halten, an den Menschen begehen könnte.


Leo N. Tolstoi hat mit „Auferstehung“ einen religiös/spirituellen Roman geschrieben, der abgesehen vom Schluss, überzeugt. Nechljudow verkörpert die Ideen Tolstois. Das Ende des Romans allerdings versumpft in einer theologischen Moralpredigt, in der fleißig aus dem Evangelium des Matthäus zitiert wird. Das ist sehr bedauerlich. In diesem sonst so gut ausgearbeiteten Roman hätte dieses nicht so passieren dürfen. Die spirituelle Entwicklung Nechljudows hätte, um den Roman würdevoll enden zu lassen, literarisch ausgebaut werden müssen. Aber so nun endet der Roman nur in einem unsäglichen Moralsumpf. Auch wenn die Zitate aus Matthäus zum Roman passend gewählt sind und gegen ihre Aussagen nichts einzuwenden ist, haben Moralpredigten die Welt noch nie zum Besseren bekehrt. Darin besteht auch das Dilemma, in dem sich Tolstoi befunden haben muss. Schon zur Zeit der Krimkriege war sich Tolstoi bewusst, dass sich eine nach seinen Vorstellungen praktikable rationalistische neue Religion nur Verwirklichen lasse, wenn kommende Generationen bewusst auf dieses Ziel hinarbeiten.

:stern: :stern: :stern: :stern:
der Schluss macht ein Stern weg

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Re: Tolstoi Leo N. - Auferstehung

Beitragvon Krümel » 22.02.2011, 11:33

Ein sehr tiefschürfendes Werk!

Denn in diesem Werk geht es um den ganzen zaristischen Staatsapparat mit seinem Gerichtswesen, die großen Hauptstädte Moskau und St. Petersburg liefern den Spielraum der dekadenten Adelsschicht, und kleine Dörfer nebst Sibirien für die breite Masse, das Volk. Die orthodoxe Kirche wird angegriffen, die auch ihren Beitrag zur ökonomischen Ausbeutung der Arbeitskraft liefert. Im Grunde ist das ganze Werk eine zur Schau-Stellung des zaristischen Staates mit einer These der Wandlung, Auferstehung oder Wiedergeburt, doch gerade diese These verläuft zum Schluss im Sande.

In Russland wurde dieses Werk mit 500 Streichungen 1899 als Fortsetzungsgeschichte abgedruckt, im europäischen Ausland wurde es unzensiert veröffentlicht. Als Vorlage diente ihm die Geschichte der Rosalie Oni, die ihm ein Bekannter überließ.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Nechljudow, ein reicher Adeliger, der die Hofmagd Katjuscha schwängert, ihr 100 Rubel als Entschädigung in die Hand drückt und verschwindet. Viele Jahre später trifft Nechljudow Katjuscha wieder, und zwar bei einer Gerichtsverhandlung. Er gehört zu den Geschworenen, die die Maslowa frei sprechen möchten, doch durch einen irrigen Fehler im Wortlaut, wird sie zur Zwangsarbeit nach Sibirien verurteilt.

Er, Nechljudow, gibt sich die alleinige Schuld am Ausgang der Verhandlung und auch an ihrem Lebenswandel, denn die Maslowa wurde aufgrund ihrer Schwangerschaft entlassen, fand keine Arbeit mehr und wurde Prostituierte. Und nun möchte Nechljudow seine Schuld durch Sühne wieder gutmachen …

„… er wünschte von ihr nichts für sich selbst, sondern hatte einzig den Wunsch, daß sie ihre jetzige Wesensart ablegen und wieder zu jener zurückfinden möge, die er von früher her an ihr kannte. „

„Ich bin schuld, während sie bestraft wird. Sie ist völlig unschuldig.“


Tolstoi geht von der Theorie aus, dass der Mensch im Kern seines Wesens, also von Natur aus, gut ist und entwickelt auf diese Annahme seine Schuldzuweisung sowie auch gleichzeitig seinen Lösungsvorschlag. Und bis zum moralisierenden Ende spielt er diesen Weg sehr konsequent durch. Sein Protagonist hadert, zweifelt, lässt aber von seinem Vorhaben nicht ab. Manchmal liest sich dieses Tun und Wirken sehr verkrampft, denn er steht in der „Verpflichtung des Maslowa“!

Ich hatte ein Problem mit dieser starren religiösen Denkweise. Anstatt sich der aufkeimenden Idee von Marx und Engels, Gleichheit, Freiheit und Einigkeit an zu schließen; verfällt Tolstoi in altmodische Ansichten (man lese auch „Meine Beichte“), dass ich mit Erstaunen den modernen Idealisten aus „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ nicht wieder erkenne.

Diese verkrampfte Haltung der Schuldfrage an der „unschuldigen“ Katjuscha, und diese Wiedergutmachung aus Verpflichtung, die dann zum Schluss in den Evangelien ihren Ausgang findet, grenzt meines Empfindens an Peinlichkeit. Übrigens hat Tschechow diesen Schluss, „Moralphilosophie“ getauft, und folgendes dazu geschrieben: >>Die Erzählung hat keinen Abschluss; denn das, was dasteht, kann man nicht als Abschluß nennen. Schreiben, schreiben, und dann alles nehmen und auf einen Evangelientext abwälzen – das ist schon richtige Theologenart. …<<

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Re: Tolstoi Leo N. - Auferstehung

Beitragvon mombour » 22.02.2011, 13:14

Hallo Krümel,

Tschechow hat das ganz richtig vermerkt. Der Roman an sich ist auf Läuterung von Nechljudows Seele angelegt, auf eine Art Befreiung, damit Nechljudow ohne Schuld weiterleben könne. Moralpredigten bringen da überhaupt nichts. Irgendwie komme ich von dem Verdacht nicht los, Tolstoi befand evtl. in einer Art religiöser Krise, weil er erkannt hat, seine Lebensideale nicht verwirklichen zu können, darum ihm in "Auferstehung" am Schluss nur Moralgesumpfe einfiel anstatt spiritueller Erfahrung/Läuterung des Protagonisten. Naja, Christen sind schon durch die Erbsünde schuldlastig, nicht wahr?

Ist "Die Beichte" auch so ein morales Sumpfloch? :mrgreen:

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Re: Tolstoi Leo N. - Auferstehung

Beitragvon Krümel » 22.02.2011, 17:09

mombour hat geschrieben:Ist "Die Beichte" auch so ein morales Sumpfloch?


Eigentlich ja, wenn man es so betrachtet. Tolstoi hatte eine echte Sinnkrise, er war ja religiös in jungen Jahren, hat sich dann abgewendet und zum Schluss wieder hin gefunden. Daran ist nichts zu rütteln oder kriteln, aber meist nimmt man dann einen "moderneren" Glauben an, irgendwie reifer (weg vom goldenen Kalb und hin zu Gott), gerade auch zur damaligen Zeit. Er fällt so meilenweit zurück, für mich ist das unbegreiflich :grübel2:
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