Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Albahari, David - Die Ohrfeige




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Albahari, David - Die Ohrfeige

Beitragvon Pippilotta » 12.09.2007, 13:34

[center]Bild[/center]

David Albahari - Die Ohrfeige
Eichborn Verlag 2007
400 Seiten
ISBN: 978-3821857855


Belgrad, 1998. Der namenlos bleibende Erzähler befindet sich auf seinem täglichen Spaziergang entlang des Donauufers als er beobachtet, wie ein Mann eine junge Frau ohrfeigt und anschließend im Menschengewühl verschwindet. Der Erzähler – sensibilisiert durch den politischen Umbruch in seinem Heimatland – misst dieser Beobachtung große Bedeutung zu, sein bisher ruhiges Leben – er arbeitet an Übersetzungen und an einer wöchentlichen Kolumne – gerät in Bewegung. Er vermeint plötzlich bedeutungsvolle Zeichen in Form von Doppeldreiecken und Zahlenkombinationen zu erkennen, fühlt sich übersinnlichen Schwingungen ausgesetzt und sieht sich als Teil einer großen Verschwörung. Infolge einer Reaktion auf eine Zeitungsannonce wird ihm ein Manuskript zugespielt, das die jüdische Bevölkerung eines Stadtteils Belgrads mit der Kabbala verbindet und die Vision der Errichtung eines Golems enthält. Er sucht den Kontakt zu jüdischen Kreisen, lässt sich in die Magie und Tradition der Kabbala einführen und sieht sich bald selber als Teil dieser verschwimmenden Realität und in verschwörerische Verkettungen verstrickt. Diese neuen Erfahrungen veranlassen ihn, in seiner Kolumne zu nationalsozialistischen Gedanken, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und dem ungelösten Kosovo-Konflikt Stellung zu nehmen, was zu Drohungen, Schikanierungen und Anfeindungen seiner Person führt.

Neben ethnischen Grundfragen über Gut und Böse, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus beschäftigt sich das Buch mit der Welt der Mystik, der Zeichenlehre und Magie. Es verlangt vom Leser große Aufmerksamkeit, all die Gedanken nachvollziehen zu können, da der Protagonist auch einem gelegentlichen Joint nicht abgeneigt ist und deshalb ohnedies Reales und Imaginäres verschwimmen. Es ist oft schwer zu erkennen, welche Erlebnisse real sind und welche der Fantasie und Einbildung entspringen. Trotz der sprachlichen Ausgefeiltheit und meiner Meinung nach großartigen Übersetzung fiel es mir persönlich schwer, mich auf dieses Buch einzulassen, die Konturen waren zu verschwommen, der Sog dieser Traum- und Fiktionswelt erfasste mich nur am Rande. Dennoch fand ich in diesem Buch großartige Ideen und Erkenntnisse, so stellt z.B. der Protagonist seine eigene Person, die Bedeutung eines Einzelnen im weltlichen Getriebe immer wieder in Frage:

Im nächsten Augenblick fragte ich mich, was ich da eigentlich tat: Mein Land war dabei auseinander zu fallen, Bombendrohungen hingen in der Luft wie überreifes Obst, Menschen zerbrachen, als wären sie aus Legosteinen zusammengesetzt, der Irrsinn war nahe daran, zum Normalzustand erklärt zu werden, und ich vergeudete meine Stunden und Tage mit kabbalistischen Geheimnissen und antijüdischen Verschwörungen, um dahinter zu kommen, wer im Morast des Flusses Spuren hinterlassen hatte, die längst verwischt waren.

Ein eigenwilliges Buch, ein Buch das den Leser fordert und dem ich viele Leser wünsche.

:stern: :stern: :stern:

David Albahari, geb. 1948 in Pec/Serbien studierte Anglistik in Belgrad und war Herausgeber mehrerer Literaturzeitschriften. Seit 1994 lebt er in Kanada als Schriftsteller und Übersetzer. Für seinen Roman "Mutterland" erhielt er 1997 den NIN Preis.
Ebenfalls auf Deutsch erschienen:
„Beschreibung des Todes“, 1993
„Tagelanger Schneefall“ , 1997
„Wind vorm Fenster“, 1998
„Mutterland“, 2002
„Götz und Meyer“, 2003
„Fünf Wörter“, 2005


Lesereise im November von David Albahari:

Dienstag, 6.11. Frankfurt, Literaturhaus
Mittwoch, 7.11. Hannover, Literaturbüro, Literaturetage im Künstlerhaus
Donnerstag, 8.11. Zürich, Literaturhaus der Museumsgesellschaft
Montag, 12.11. Darmstadt, Literaturhaus
Dienstag, 13.11. Esslingen, Stadtbücherei
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

von Anzeige » 12.09.2007, 13:34

Anzeige
 

Beitragvon Krümel » 19.09.2007, 09:36

So, dann post ich mal meine Eindrücke:

Hm, packen tut mich das Buch nicht :? Obwohl alles rätselhaft und verzwickt ist, lässt mich die Handlung ziemlich kalt. Ich bin auf Seite 84.
Wie alt ist eigentlich der Erzähler??? Mitte 30 oder?
Also die Figuren werden gar nicht beschrieben, sie sind charakterlos, nur die Handlung trägt den Roman.

Naja, schauen wir mal :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Pippilotta » 19.09.2007, 13:07

eigenartiges Buch, gelle?

Ich glaube, es wurde nicht erwähnt, wie alt der Protagonist ist. Ich hätte ihn auch so auf 30-40 geschätzt.

Bin weiter auf Deine Berichte gespannt!!
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Beitragvon Krümel » 20.09.2007, 14:41

Ich bin jetzt bis Seite 171.

Zunächst verstehe ich es überhaupt nicht, warum er das Mädchen nicht direkt auf die Ohrfeige anspricht :roll: Boah, da könnte ich ihm eine klatschen :evil: so ein Hirni!

Warum macht der Erzähler DAS hier?

Genauso wie wohl die Joints daraufhinweisen, dass diese zwei Männer nicht viel mit ihrer Umgebung, der jetzigen Situation in Serbien nach dem Krieg, dem Umbruch und, und, und anfangen können. Also diese Wirklichkeit von außen, und wovon der Erzähler sich ja andauernd distanziert, ist es, warum er diese Ohrfeige als Grund für seine Mystiker-Suche beginnt. Dies ist ihm bei weitem immer noch lieber, als das was in den Zeitungen steht, ja als die Wirklichkeit. Es ist seine Flucht!

Was aber nicht heißt, dass mir das Buch Freude bereitet. Dafür ist das ganze Buch viel zu vage! Es geht nicht in die Tiefe für Leser, die sich ein klein wenig auskennen, oder es setzt einiges voraus für Leser, die sich noch nie darum geschert haben. Es ist flach und lau!
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Pippilotta » 20.09.2007, 15:47

Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass es "flach" ist. Ich hatte eher das Gefühl, dass ich es einfach nicht verstehe. Dass Dinge angesprochen werden, zu denen ich keinen Zugang habe (Kabbala, Mystik, etc.), und mir deshalb das Buch "zu hoch" ist. :grübel2:
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Beitragvon Krümel » 20.09.2007, 19:41

Pippilotta hat geschrieben:Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass es "flach" ist. Ich hatte eher das Gefühl, dass ich es einfach nicht verstehe. Dass Dinge angesprochen werden, zu denen ich keinen Zugang habe (Kabbala, Mystik, etc.), und mir deshalb das Buch "zu hoch" ist. :grübel2:


So meinte ich es auch nicht :oops: Sondern von den Figuren her, und auch von einer Handlung her, die das Ganze etwas mehr tragen könnte. Flach, weil ich empfinde gar nix bei der Lektüre, lau, weil ich auch jeder Zeit mit der Lektüre aufhören könnte, ohne dass mir irgendetwas fehlt :wink:

Schaut man sich jetzt die Geschichte Serbiens etwas genauer an, Holger hat mir ein wenig geholfen :lol: , kann ich nun absolut nachvollziehen, warum dieser Erzähler nichts mit seinem Land, mit dem Regime, und alles was politisch ist, zu tun haben möchte. Der Autor Albahari ist 1994 nach Kanada gefluchtet. Er schreibt auch nicht direkt, was jetzt dort in Belgrad geschah und geschieht, sondern beschreibt das ewig verfolgte Judentum. Ein Vergleich? Eine Anspielung?

Ich würde gerne den Sinn vom Ganzen verstehen, und was dieser ewig lange Monolog überhaupt soll :?:

Übrigens ich habe auch schon ein Gedicht über die Shekhinah geschrieben:
[center]Shekhinah


hörst du sie weinen
wenn sie entbehrt
ihren Gatten

siehst ihre Tränen
aus den Tiefen
ihres Exils

Lichthafte Urkraft
will gebären

LICHT
FORM
KLANG
und
WORT

schenk ihr
Ekstase
schenk ihr
das Licht
[/center]
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Krümel » 22.09.2007, 15:36

Mittlerweile bin ich auf Seiten 270 angelangt.

Es geht nun nicht mehr so sehr um die ganzen Rätsel, langsam nimmt das Buch doch Formen an. Was zwar ziemlich ermüdend zu lesen ist, ist diese Monologform, aber so etwas habe ich auch noch nie gelesen, auch mal etwas Neues.
Insgesamt steigt der Roman in meiner Achtung, ich bin nun sehr gespannt auf das Ende :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Krümel » 23.09.2007, 13:34

>>Die Wirklichkeit war so abartig geworden, dass ein Marihuanarausch geradezu als Normalzustand erschien.<<

Meine Gedanken zum Buch:

Auch in meiner Stadt gibt es seit einer geraumen Zeit Ausschreitungen einer Braunen-Gruppe. Doch wie kann gegen so Etwas vorgehen?
Ist es überhaupt sinnvoll aktiv einzuschreiten?

Der Erzähler im Buch muss letztendlich alles aufgeben und flüchten. Seine Zivilcourage wurde mit der Flucht aus Stadt und Land belohnt. Die Weltverbesserer scheitern mit ihrem Experiment!

Namen, die bei uns auf einer Liste erscheinen, Bündnis gegen Rechts, müssen mit Anschlägen auf ihr Leib und Wohl rechnen.
Mir persönlich fehlt die Idee, auch der Mut, und vor allem auch ein Stück Hoffnung, wie man dieses Thema, vor allem: Ein-für-alle-Male!, angehen kann, damit dieses zerstörerische Gedankengut aus den Köpfen der Menschheit weicht.

Ein gutes Buch, weil es so nachdenklich stimmt.
Ein schweres Buch, weil es sich nicht so leicht erschließt.
Ein eigenartiges Buch, weil es aus einer außergewöhnlichen Perspektive heraus geschrieben ist.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: ( :stern:)
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Pippilotta » 23.09.2007, 17:44

Ich finde Deine Gedanken zum Buch großartig und sehr treffend! :thumbleft:

Es ist schwierig, die Botschaften dieses Buch in Worte zu fassen. Hauptsächlich geht es darum, die Maschinerie des Entstehens und Verbreitens von nationalem Gedankengut zu schildern, sowie das schier unlösbare Problem der Bekämpfung. Ein Einzelner kann so wenig ausrichten, ....

Hast Du das auch so gesehen, dass sein Freund Marco mittendrin verstrickt war in diesen Gruppierungen? Es war doch bei vielen Schilderungen der "Mann in Schwarz" (schwarzer Mantel, schwarze Jacke) anwesend. Und zum Schluss sieht er doch Marco - ganz in schwarz gekleidet.
Siehst Du das auch so, oder habe ich mir das eingebildet?
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Beitragvon Krümel » 23.09.2007, 19:25

Yepp!!! So sehe ich das mit Marko auch :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Pippilotta » 23.09.2007, 19:28

... was natürlich ein weiterer Grund ist, den Glauben an die Menschheit zu verlieren ...
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Beitragvon wolves » 24.09.2007, 07:55

Ich habe diesen Thread mit größtem Interesse verfolgt. Es war unglaublich spannend die Meinung über das Buch von Krümel und euren Austausch darüber zu lesen.
Und wenn ich nicht so viele ungelesene Bücher zu Hause und mir deshalb einen Buchkaufverbot (Ausnahme sind Leserundenbücher) erteilt hätte, wäre es ein Buch, das ich mir auch mal vornehmen würde. Auf jeden Fall ist es notiert.
Liebe Grüße
wolves


Benutzeravatar
wolves
Buchgenießerin
Buchgenießerin
 
Beiträge: 6413
Registriert: 07.11.2006, 14:51
Wohnort: Saarland

Beitragvon Krümel » 24.09.2007, 09:00

@ wolves

Ich kann dir das Buch auch zuschicken? Falls du magst :wink:
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon wolves » 24.09.2007, 14:45

Mögen möcht ich schon. Die Frage wäre wohl eher, wann ich zum lesen komme :D
Liebe Grüße
wolves


Benutzeravatar
wolves
Buchgenießerin
Buchgenießerin
 
Beiträge: 6413
Registriert: 07.11.2006, 14:51
Wohnort: Saarland


Zurück zu Zeitgenössische-Literatur

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron