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Chessex, Jacques - Der Kinderfresser




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Chessex, Jacques - Der Kinderfresser

Beitragvon Krümel » 26.03.2010, 11:16

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Mit wenigen Seiten packt das Büchlein ein breites Spektrum aus!

Der Benjamin, der fünfte Spross, einer autoritären Familienhierarchie leidet sehr unter dem Druck des Familienoberhaupts. Der Vater ist ein erfolgreicher Arzt und ist in seinen Kreisen hoch angesehen, er sitzt am oberen Ende des Tisches, die Mutter reicht ihm demütig die Speisen und seine vier Geschwister essen auswärts, sie haben fluchtartig das Haus verlassen. So ist Jean Calmet hilflos dem Tyrannen ausgeliefert, entwickelt sich zum Einsiedler und fristet ein trauriges Dasein.

„Der Vater thronte oben am Tisch, riesengroß. Der Abendschein rötete seine glänzende Stirn, auch die schweren Arme leuchteten im orangefarbenen Licht, seine Kraft war augenfällig, glücksstrahlend; Muskeln und Speck seiner Brust hoben das Hemd, das sich über einem Wald grauer Haare öffnete, und die Brustwarzen zeichneten sich als Spitzen unter der Baumwolle ab.“

Kennzeichnend für diese Entwicklungsstudie im Roman ist Isabelle. Jean bewundert diese junge Frau und fühlt sich auch von ihr sexuell angezogen. Doch wenig später erwischt er seinen Vater beim Beischlaf mit Isabelle und eine Welt bricht für ihn zusammen.

Das Werk handelt von einem patriarchalischen Übervater, den man nichts recht machen kann und der praktisch unfehlbar ist. Sein jüngster Sohn kann sich gegen diese Übermacht nicht zur Wehr setzten. Und so verlegt der Hilflose seine >Unmacht< auf seine gefügige Mutter, dadurch wird auch diese Beziehung gestört. Diese Konstellation führt zu einem Zustand der Minderwertigkeit und ist gespickt mit Schuld. - und Angstkomplexen, die allesamt lebensunfähig machen. Chessex zeichnet wunderbar das Bild des Kindlifresser-Brunnens in Bern.

Sehr vielschichtig ist dieses außergewöhnliche Büchlein. Der Inhalt lässt sich leicht in sehr viele unterschiedliche Richtungen interpretieren und öffnet viele Türen. Dadurch bin ich auf den Geschmack gekommen, und habe mir gleich „Ein Jude als Exempel“ bestellt, welches ich später beginnen werde. Klasse Buch!

Jacques Chessex, geboren 1934 in Payerne, gestorben 2009 in Yverdon-les-Bains, lebte die letzten Jahre in Ropraz im Schweizer Haut-Jorat. Er galt mit über achtzig Publikationen als der bedeutendste Schriftsteller der Romandie. 1973 wurde er für „Der Kinderfresser“ mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, 1992 erhielt er für sein literarisches Werk den Mallarmé-Preis, 2003 den Grand Prix de la langue français für sein, 2007 den Jean-Giono Preis. Chessex arbeitete außerdem als Maler und Jury-Mitglied des Prix Médicis.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: *
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Re: Chessex, Jacques - Der Kinderfresser

Beitragvon Susannah » 29.03.2010, 16:03

Dieses Buch wurde mir schon mal wärmstens empfohlen. Deine Rezi klingt zwar auch sehr viel versprechend, aber ist das Thema nicht sehr bedrückend? Also mich machen so patriarchalische Männer immer ein bisschen depressiv. (Z. B. bei "Vera" von Elizabeth von Arnim).
Nichts ist schöner und nichts erfordert mehr Charakter als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!
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Re: Chessex, Jacques - Der Kinderfresser

Beitragvon Krümel » 29.03.2010, 17:40

Susannah hat geschrieben:Also mich machen so patriarchalische Männer immer ein bisschen depressiv. (Z. B. bei "Vera" von Elizabeth von Arnim).


Wenn man das Buch im übertragenden Sinn liest, bekommt man gar keine Chance depressiv zu werden :wink:
(Also ich habe im Vater immer einen Diktator gesehen, und zwar genau genommen Hitler, die Mutter war "meine" Schweiz, und der Sohn, der typische Mitläufer, der dann von den 68 er gestoppt wird :mrgreen: Ich hatte meinen "Spaß" mit dem Buch.)
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Re: Chessex, Jacques - Der Kinderfresser

Beitragvon Susannah » 29.03.2010, 20:17

Hmmmm :grübel1: ... naja, ich behalts mal weiter im Hinterkopf. Mein SUB ist so oder so schon nicht mehr bewältigbar.
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