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Grünberg, Arnon - Tirza




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Pippilotta » 03.06.2010, 07:37

Jörgen Hofmeester, Ende 50, wohlhabend, Vater zweier Töchter, Tirza und Ibi. Seine Frau hat die Familie vor 3 Jahren verlassen, um mit einem Jugendfreund auf ein Wohnboot zu ziehen. Der Vater kümmert sich fürsorglich, vorbildlich und rührend um seine Jüngste, Tirza ist sein ein und alles, Tirza ist sein Augenstern, seine Sonnenkönigin. Jeder Wunsch wird ihr von den Lippen abgelesen, der Weg geebnet, Komplikationen aus dem Weg geräumt. Nach außen hin ist Jörgen Hofmeester ein Bilderbuch-Vater und präsentiert sich auch dem Leser als solcher.

Im Zuge der Vorbereitungen zur Abiturparty seiner Tochter Tirza die Jörgen mit all seiner Pedanterie und Perfektionismus zu einem unvergesslichen Fest machen will und dem plötzlichen Erscheinen der Mutter der Kinder (die im Buch immer nur als „die Ehefrau“ bezeichnet wird), kommen die wahren Zustände und Verhältnisse ans Tageslicht und legen den wahren Charakter des Jörgen Hofmeester offen.
Die Ehefrau hat ihn verlassen, weil sie ihn nicht mehr aushielt, auf der Arbeit wurde er bei vollen Bezügen freigestellt, weil er unbrauchbar ist, für eine Entlassung aber zu alt. Mit Akribie baut sich Jörgen eine Scheinwelt auf, verlässt jeden Tag pünktlich – mit Aktentasche unterm Arm – das Haus, um seine „Arbeitszeit“ am Flughafen zu verbringen, kehrt zu „Dienstschluss“ wieder heim und kümmert sich um seinen einzigen (Über-)lebensgrund, seine Tochter Tirza. Ihr Vorhaben, nach dem Abitur auf Weltreise zu gehen, wirft ihn aus der Bahn.

In Rückblenden, Erinnerungen werden die 20 Jahre Ehe – vom Kennenlernen, über die Geburt der Töchter, den Bruch mit der älteren Tochter, bis zu seinen beruflichen (Miss-)Erfolgen mosaikartig zusammengebaut, Abgründe offengelegt, Zusammenhänge deutlich gemacht. Einzelne Hinweise, Andeutungen werden erst in den letzten Kapiteln des Buches erklärt, was den Leser in einen ungeheuren Sog versetzt, das Buch ist kaum aus der Hand zu legen.

Es ist ein ruhiges Buch, die Erzählung „plätschert“ dahin, ist aber in keiner Passage langweilig. Gefesselt und atemlos liest man über das Scheitern des Jörgen Hofmeester, sein Versagen in beruflicher, sexueller und zwischenmenschlicher Hinsicht, liest gebannt die Anfeindungen und Gehässigkeiten, die ihm seine Ehefrau vorwirft, erfährt die menschlichen Abgründe des Protagonisten mit all seinen Wahnvorstellungen und Neurosen, als würde man einen Reißverschluss langsam öffnen. Und am Ende? – Ja, damit hat wohl keiner gerechnet …..

Arnon Grünberg:
geb. 1971 in Amsterdam, lebt seit 1995 in New York. Er publiziert auch unter dem Pseudonym Marek van der Jagt. Mit seinen mit Preisen ausgezeichneten Romanen "Phantomschmerz" oder "Der Vogel ist krank" gelang ihm der internationale Durchbruch.

Genial aufgebaute Story, eines meiner Highlights 2010 und den „üblichen Verdächtigen“ ans Herz gelegt!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern: :clap:



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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Siebenstein » 03.06.2010, 09:19

Schöne Rezi, danke Pippi. Ein Buch genau nach meinem Geschmack, jetzt freue ich mich umso mehr aufs Lesen. :thumleft:

Liebe Grüße
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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Karthause » 03.06.2010, 10:08

Solche Rezis tun meinem Wunschzettel gar nicht gut. Naja, auf ein Buch mehr kommt es nicht an. Vielleicht muss es ja gar nicht lange warten, denn meine Bib hat es da. :lol:
Viele Grüße
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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Siebenstein » 10.07.2010, 18:20

Ich bin mittlerweile durch mit dem Buch und sehr froh, dass ich es selbst noch schnell gelesen habe, bevor ich es für meine Freundin zum Geburtstag gekauft hätte (was ich jetzt nicht tun werde :? ).

Mich hat lange kein Buch mehr so runtergezogen - und ich lese ja wahrlich oft Bücher dieser Art. Ich empfand diesen Roman als unglaublich traurig und trostlos, wenn auch genial geschrieben und sehr gut aufgebaut. Ich war permanent hin und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid für den Protagonisten, der einfach nicht raus konnte aus seiner passiven, biederen Haut und sich als Folge äußerst zweifelhafte Ventile für "das Tier" in sich suchen mußte.

Das soll jetzt kein Verriß sein. Das Buch ist packend geschrieben und bietet kluge Einblicke in die Psyche eines leidenden, schwer gestörten Mannes. Wer sich darauf einlassen kann, dem sei das Buch sehr empfohlen.

Herzliche Grüße
Siebenstein :wink:
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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Coco » 15.02.2012, 16:11

Kann es evtl. sein, dass ich mein "Hightlight 2012" schon im Februar gelesen habe?

Was für ein Buch!
Es passiert mir wirklich selten, dass ich körperlich auf Gelesenes reagiere, aber nachdem ich das Buch gelesen aus der Hand legte bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper verspannt war und dennoch irgendwie am liebsten geheult hätte.
Ich musste das Buch auch während des Lesens immer mal wieder für ein paar Tage weg legen. Die Beschreibungen um Jörgen Hofmeester, seine Gedanken, sein Handeln - wurde mir oft zu viel.

Ein riesengroßes Kompliment an Arnon Grünberg, einen Menschen wie Jörgen Hofmeester zu erschaffen, seine Psyche so detailliert zu durchleuchten, zu bechreiben, fast plastisch zu machen. So etwas habe bisher wirklich kaum gelesen!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Danke Pippi für den Tip! :bussi:
Liebe Grüsse
Coco

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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Pippilotta » 15.02.2012, 17:30

und ich verfolge schon die ganze Zeit in Deiner signatur, dass Du das Buch liest, und war seeeehr gespannt auf Deine Meinung. Danke fürs Posten! Mir ist da Buch auch unter die Haut gegangen!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon chip » 15.02.2012, 18:18

Klingt wirklich, als könnte das was für mich sein. Ich hab "Gnadenfrist" vom Autor im SUB liegen und werde da gleich als nächstes reinschauen.
chip
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Re: Grünberg, Arnon - Tirza

Beitragvon Coco » 15.02.2012, 20:25

Ich habe Arnon Grünberg vor 2 Wochen auf einer Lesung erlebt. Ein sehr sympathischer Mann, der mit viel Spaß aus seinen Büchern "Mitgenommen" und "Mit Haut und Haaren" (dieses erscheint auf deutsch in den nächsten Tagen) in sehr gutem Deutsch las.

Ich hatte bis dahin "Tirza" schon etwa bis zur Hälfte gelesen und war sehr gespannt auf ihn.

Er ist wahrlich alles andere als ein "schöner" Mann - eher das Gegenteil. Aber dass er SO schreiben kann macht ihn wahrlich schon fast wieder sexy. :wink:
Liebe Grüsse
Coco

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