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Nooteboom, Cees - Allerseelen




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Nooteboom, Cees - Allerseelen

Beitragvon chip » 01.02.2011, 12:44

Allerseelen, 1998
Cees Nooteboom
Niederlande

Nach dem tragischen Tod von Frau und Kind vor 10 Jahren, lebt der niederländische Filmemacher Arthur Daane isoliert im Nirgendwo. Getrieben von den Geistern seiner Vergangenheit reist er von einem Krisengebiet ins Nächste, um Dokumentarfilme für die breite Masse abzuliefern.

"Ich weiß, dass du zwei Pole in deinem Wesen hast" sagte der Redakteur, "Reflexion und Aktion; aber mit Reflexion schafft man nun mal keine Einschaltquoten."

Sein Traum aber ist ein Film anderer Art. Ein privates Projekt gegen den oberflächlichen Mainstream. Er filmt die Stille, die Vergänglichkeit... und die findet er im winterlichen Berlin - die Stadt mit der noch frischen Narbe im Gesicht. Er schlendert durch die verschneiten Straßen und sammelt Eindrücke, Fragmente von Vergänglichkeit, die in seiner Wohnung meterhoch auf Filmrollen verstauben. Der Umgang mit Geschichte ist uns abhanden gekommen, der rasante Lebensstil legt die Belanglosigkeit eines Menschen offen, Todesopfer als Zahl reduziert, verlogene Mahnmale, unvollständige Statistiken in Geschichtsbüchern, zügiges Vergessen als Abwehrreaktion. Das kollektive Gedächtnis verblasst und verweht wie die flüchtigen Fußspuren im Schnee.

"Wir sind die größten Helden der Geschichte, wir müssten bei unserem Tod alle dekoriert werden. Keine Generation hat je soviel wissen, sehen, hören müssen, Leid ohne Katharsis, Scheiße, die man in den neuen Tag hinein schleppt."

So bruchstückhaft wie seine Aufnahmen ist auch der Roman. Er lebt von den Überlegungen und Gedankenspielen seiner Freunde, die am Stammtisch jede Floskel nutzen, um metaphysische Gespräche zu führen, wo nicht selten Hegel und Nietzsche bemüht werden. Es macht Spaß, ihnen zuzuhören, wenn sie über Sinn und Unsinn des Lebens philosophieren. Auch das wiedervereinigte Deutschland wird gerne zum Thema herangezogen um über die paradoxe Haltung des Volkes hinzuweisen und deren Versäumnis:

"Ich bin darüber im Bilde, dass auf höheren Schulen in Holland Philosophie gar nicht oder nur wenig unterrichtet wird und vermutlich überhaupt keine deutsche Philosophie, aber Unwissenheit kann man auch übertreiben. Andererseits können Sie wahrscheinlich nicht viel dafür. Wie Heinrich Heine schon sagte: In den Niederlanden passiert alles immer erst fünfzig Jahre später."
"Das ist dann wohl der Grund dafür, warum Mainz, Hamburg und Düsseldorf kein Heine-Standbild haben wollten und warum sogar noch 1965 Rektor und Senat ihre neue Universität nicht nach Heine benennen wollten und die überwiegende Mehrheit der Studenten auch nicht."
"Sie wollen sagen, weil Heine Jude war?"
"Diese Schlussfolgerung überlasse ich ihnen. Ich denke, es kam daher, weil Heine ein intelligenter Spötter war und dass man hierzulande hundert - wie sie wissen, sind das zweimal fünfzig - Jahre später noch immer nicht erträgt. Das Standbild, von dem ich gerade sprach, steht inzwischen in New York, in der Bronx. Dort fühlt es sich wahrscheinlich auch wohler."


Dieser Dialog zwischen Lehrer und Schüler erinnerte mich an Tucholsky, der irgendwo schrieb: "Die Zahl der deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist."

Der Ton des Buches ist Schwermut und Melancholie über den mutwilligen Versuch, die Ereignisse vor dem Vergessen zu retten. Als Rahmenhandlung dient eine anrüchige Liebesbeziehung, die am Ende keine Spuren hinterlassen wird. Auch sie bildet ein weißes Blatt im großen Buch der Weltgeschichte.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild

edit Pippi: Cover eingefügt
chip
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von Anzeige » 01.02.2011, 12:44

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