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Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon mombour » 23.06.2011, 13:12

Hallo,

Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen

Dass nach dem Zweiten Weltkrieg Südamerika zum Ziel von Naziverbrechern wurde, ist hinreichend bekannt. Dass auch Algerien als Zufluchtsort galt, hat mir der Roman von Boualem Sansal eröffnet. Der Deutsche, um den es hier geht, heißt Hans Schiller. In Algerien steigt er zu einer hochangesehenen Persönlichkeit im Befreiungskrieg auf, er wird ein Scheich, fällt gemeinsam mit seiner Frau am 24. April 1994 einem Gemetzel zum Opfer, welches Islamisten in seinem Dorf Ain Deb anrichten. Algerische Behörden verschleierten die deutsche Herkunft des Ehepaares, in dem sie ihnen arabische Namen gaben. Die Söhne der Schillers wachsen in Frankreich auf. Rachel, der Ältere, macht eine berufliche Karriere, Malrich, der wesentlich jüngere Bruder, wächst in der Pariser Vorstadt unter dem Einfluss eines islamistischen Imams auf, der außerdem ein Holoaustleugner ist. Nachdem seine Eltern umgekommen waren, macht sich Rachel nach Algerien auf, das Grab seiner Eltern zu besuchen und macht eine schaurige Entdeckung. Er findet einen Koffer mit Fotos und Dokumenten die beweisen, der Vater war bei der Waffen SS und tief verstrickt in die Verbrechen der Nazis. Er war in Dachau, Buchenwald, Majdanek, Auschwitz. Um der Justiz zu entkommen floh er über Istanbul, Syrien und Kairo nach Algerien, ins Dorf Ain Deb, das irgendwo im Niemansland von vier kahlen Hügeln umklammert ist, wohin garantiert keine deutsche Justiz ihre Arme ausstreckt.

„Wenn ein einziges Verbrechen auf der Erde ungesühnt bleibt, und wenn das Schweigen es über den Zorn hinwegführt, dann verdienen die Menschen nicht zu leben“, schreibt Rachel ins Tagebuch.

Rachel verfolgt die Spur seines Vaters durch Europa, verstrickt sich sehr tief in das ungesühnte Verbrechen seines Erzeugers und geht daran zugrunde. Wie verstrickt Rachel wirklich ist, ist leicht zu erkennen, wenn wir in seinem Tagebuch seitenlang über Zyklon B und Vergasung lesen. Exemplarisch für Rachels Charakter ist seine Begegnung mit einer alten Frau in Auschwitz. Er entschuldigt sich bei ihr, dass sie ein so schweres Leben gehabt habe, schließlich trage sein Vater eine Mitschuld. Da die Mitschuld des Vaters nicht gesühnt ist, muss der Sohn, also Rachel sühnen. Das ist Rachels Überzeugung, die ihn vernichtet.

Und was ist mit Malrich? Er wacht aus seiner jugendlichen Ünbekümmertheit auf und legt sich mit dem fundamentalistischen Imam an.

Boualem stellt die These auf, Islamisten sind genauso fürchterlich wie die Nazis. Geschichte wiederholt sich. Eine These mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Man stelle sich mal vor – reine Hirngespinstelei- Islamisten erobern Amerika, die würden alle Amerikaner umbringen, weil sie Amerika hassen und weil Allah gesagt hat, die Ungläubigen müssen getötet werden (Allah möge, wenn er irgendwo walten sollte, solch ein Vorhaben verhindern). Zu solchen Gespinsteleien kann der Leser des Romans leicht kommen und ich glaube, Boualem meint es bitterernst. Religiöser Fanatismus gehört zu den fürchterlichsten Verblendungen, denen ein Mensch unterlegen sein kann.[heul] In Malchrichs Tagebuch heißt es:

„...wenn ich sehe, was die Islamisten bei uns und anderswo veranstalten, sage ich mir, dass sie die Nazis übertreffen werden, wenn sie eines Tages an der Macht sind...“


Der Roman erschien im Jahre 2008 in Frankreich. Der Roman besteht aus den Tagebüchern der Brüder Schiller. Der Autor hat sich bemüht, jedem Bruder seinen eigenen Sprachgestus zu geben. Vor allem beeindruckt aber die Verarbeitung des Holocaust-Themas, gespiegelt auf die Nachfolgegeneration. Verschiedene Sichtweisen werden vorgestellt, wie es sein konnte, dass der Vater zum Verbrecher wurde, dann die Verzweiflung, doch nicht nahe genug an den Vater heranzukommen, der längst, ganz weit weg, am Ende der Welt unter der Wüstensonne beerdigt liegt, dabei Boualem Sansal den Blick auf die Gegenwart nicht verliert. Was Sansal drei Jahre vor dem Befreiungsumbruch in der arabischen Welt über Ägypten geschrieben hat, gilt sicher in ähnlicher Weise auch für Algerien:

Boualem Sansal hat geschrieben:Man braucht nicht lange, um es zu konstatieren, wenn man die Augen ein wenig öffnet, das alte Ägypten, das glückliche Ägypten, das kosmopolitische, krakeelende und romantische Ägypten von Nagib Machfus existiert nicht mehr. Das moderne Ägypten...wird von zwei ebenso imposanten Riesen wie den großen Pyramiden zermalmt: der Polizei und der Religion. Dem freien Menschen bleibt nicht ein Quadratzentimeter, um den Fuß darauf zu setzen.

Dieser Roman ist ein Glücksfall. Vergleichbares kenne ich nicht. Das Buch gehört auf die Bestsellerlisten. Was soll ich noch predigen? Lest es einfach. :mrgreen:
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Liebe Grüße
mombour

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von Anzeige » 23.06.2011, 13:12

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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon Pippilotta » 23.06.2011, 17:13

Danke, @mombour,für diese sehr interessante Buchvorstellung! von Bouaelm Sansal habe ich noch nie gehört, habe gerade ein wenig gegoogelt und festgestellt, dass er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Preisträger 2010 war der von mir sehr geschätzte David Grossman) 2011 erhalten wird!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon mombour » 23.06.2011, 17:36

Pippilotta hat geschrieben: von Bouaelm Sansal habe ich noch nie gehört, habe gerade ein wenig gegoogelt und festgestellt, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Preisträger 2010 war der von mir sehr geschätzte David Grossman) 2011 erhalten wird!


Mir ging es genauso. Der Autor ist mir erst ins Bewusstsein getreten, weil er den Preis bekommt. Sicher eine gute Wahl.
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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon Coco » 23.06.2011, 23:23

Danke für die Vorstellung mombour ... es ist seit 2 Minuten auf dem Weg zu mir :wink:
Liebe Grüsse
Coco

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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon Karthause » 24.06.2011, 07:18

Dank auch von mir, mombour. Das ist ein Buch, dass auch ich unbedingt lesen möchte.
Viele Grüße
Karthause

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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon mombour » 24.06.2011, 08:25

Hallo,

ich freue mich, dass ich euch für das Buch begeistern konnte. Nun stellt euch mal vor, der Algerier würde den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nicht bekommen. Wer weiß, wann oder ob ich überhaupt auf Sansal gekommen wäre. Eine Katastrophe wäre das. Darum ist es gut, wenn Autoren Preise bekommen.

Liebe Grüße
mombour
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Re: Sansal, Boualem - Das Dorf des Deutschen

Beitragvon chip » 10.08.2011, 18:36

Interessante Rezi. Vielen Dank! Jetzt lese ich gerade, dass der Roman in Algerien zensiert wurde... Jedenfalls ein Titel der sich zu notieren lohnt!
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