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Sebald, W. G. - Die Ausgewanderten




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Sebald, W. G. - Die Ausgewanderten

Beitragvon mombour » 16.08.2010, 16:40

Die Ausgewanderten Vier lange Erzählungen

Bild

In vier Erzählungen, mit einer kürzeren fängt es an, die folgenden Erzählungen werden immer länger. Sebald erzählt vier jüdische Schicksale, vier Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und daran zerbrechen.

Ich freue mich, wieder etwas von Sebald zu lesen, dessen Prosastil mir außerordentlich gefällt. In der ersten Erzählung um Dr. Henry Selwyn geht Sebald in detailierte Beschreibungen, verliert sich aber nicht darin. Ich war ja immer gespannt, wann wird denn endlich über den zweiten Weltkrieg erzählt? Und dann: Gar nicht. Das ist das außerordentliche an dieser Geschichte, sie kommt ganz leise daher und endet mit einem Knall. Während des Lesens habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, warum Selwyn im Garten liegt, warum er mit dem Gewehr in die Luft schießt. Erst so ziemlich am Schluss wache ich auf: Eine Scheidung und Selwyn spricht mit Pflanzen und Tieren. Jetzt erst wird die Psychodramatik des Herrn Selwyn erahnbar. Die Heimatlosigkeit hat ihn in die Einsamkeit getrieben, ließ er sich doch auch nur selten bei seinen Gästen blicken. Als er im Gras lag, na ja, da hat er mit den Pflanzen geredet, eine fast unerträglich schmerzvolle Metapher für das Abgedriftetsein aus dem Leben. Dass die Psychodramatik so still und leise herumschleicht ist das besondere an dieser Geschichte. Amüsant für mich dagegen, im Buch ein Bild von Vladimir Nabokov als Schmetterlingsfänger zu finden, welches mir zufällig bekannt ist.

So etwas besonders gelungenes, in der deutschsprachigen Literatur zu lesen, ist sehr erfreulich.

"..so kehren sie wieder die Toten"-


indem Sebald über Emigranten erzählt, die alle durch Suizid in den Tod gegangen sind, kehren eben auch diese Toten wieder. Der Verlust von Johannes Naegli, der in den Bergen umgekommen ist, war für Herrn Selwyn wie ein Stück Heimat, welches zu Bruch gegangen ist. Nach über siebzig Jahren kehrt dieser Tote wieder in das Bewusstsein von Menschen. Bemerkenswert auch die Auswanderung aus Litauen/Riga. Selwyn glaubt, er sei in New York, dabei ist er in London angekommen; das ist ein Bild von Verlust und Wirrnis in Zeiten der Emigration, wenn man so will eine Bodenlosigkeit, ein Leben in der Schwebe.

Die Erwähnung und Abbildung des Fotos von Nabokov mit Schmetterlingsnetz ist auch Programm, denn auch Nabokov war Emigrant, zumal außerdem noch in der zweiten Erzählung die Autobiografie des Exilrussen Erwähnung bekommt.

In der zweiten Erzählung geht es um den engagierten Dorfschullehrer Paul Bereyter, dem die Nazis ein Lehrverbot erteilt hatten, obwohl er zu dreivierteln doch ein Arier war. Warscheinlich war er noch nicht mal ein Jude sondern ein Katholik, der den Katholizismus erbittert bekämpfte, vielleicht inzwischen sogar ein Atheist, kannte er doch einen atheistischen Schusterund verfasste Pamphlete gegen die alleinseligmachende Kirche. Es wird ein Judenprogrom in der Heimatstadt seines Vaters erwähnt, der letzten Ende zwei Jahre später daran aus Wut und Furcht gestorben ist, dessen Frau eine Christin war. Hier wird natürlich der brutale Unsinn der Nazis vorgeführt. Das Böse ist immer unlogisch und dumm.

Natürlich ist es riskant, die Texte mehr und mehr zu zerpflücken. Der Lesefluss, dieses dahintreiben, ist wunderbar. Alles in einem Rutsch zu lesen, wäre eine Wohltat. Diese Zeit steht mir leider nicht zur Verfügung (vielleicht später mal, zwei Tage in der Klause oder so).

Was für eine schaurige Wahl der Todesart. Freiwillig lässt sich jemand in die Psychiatrie einweisen, mit Elektroschocks behandeln, genauer gesagt, zu Grunde richten, um aus dem Leben zu scheiden. Im Text schwingt eine Psychiatriekritik der alten Schule mit. Die Elektrokrampfbehandlung, angeblich ein Segen für die Psychiatrie der fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, machte so manchen Patienten wie den Onkel des Erzählers, dem Herrn Ambrose Adelwarth, zum körperlich- und geistigen Krüppel, in unserer Geschichte vom Patienten allerdings gewollt, der, so scheint es, mit einer Fehldiagnose, also noch ein Schlag ins Gesicht der antiquierten Psychiatrieschule, in der Anstalt seinen Tod entgegenfiebert.

Bei Ambros, die gleichen Beobachtungen wie beim Dorfschullehrer Bereyter: er steht irgendwo und sein Gesicht von unendlichem Leid gekennzeichnet. Zu Beginn seiner Karriere war Ambros ein angesehener Koch in diversen Hotels in Europa/Japan. In der zweiten Erzählung wissen wir nicht, warum Bereyter wieder nach Deutschland gegangen ist, wir wissen auch nicht, was er genau im zweiten Weltkrieg erlebt hat. Bei Ambros Adelwarth wird auch einiges in der Schwebe gehalten. Im Zuge der großen Auswanderungswelle zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kommt er nach Long Island, arbeite als Butler bei den Solomons, einer reichen jüdischen Bankiersfamilie. Wir wissen nicht, was für eine besondere Verbindung Ambros zu dem Solomon-Sohn Cosma hatte, nur, dass die Verbindung tragisch gewesen sein soll. Dem Vater fiel das auschweifende Leben des Sohnes, ein Leben ohne Zukunft auf, wollte dem Sohn die Geldzufuhr kappen, da beschließt Cosma, mit Ambros durch Europa zu reisen. Anhand dieser Reise macht Sebald deutlich, was für ein Riss der Welt bevorsteht. Wir befinden kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. In Europa hat Cosma unverschämt viel Glück im Roulette, dass es schon entrückt und unrealistisch ist. Der Ausbruch des Krieges drängt ihn in eine erste Nervenkrise, an deren Folgen er erst viel später stirbt - Ambros, dann im Hause der Solomons wie eine entrückte einsame Gestalt seinen Dienst tut. Der Zusammenbruch der Familie Solomon als Metapher für eine zusammengebrochene Zeitepoche, die nie wieder auferstehen wird.

Auffallend ist, in dieser Erzählung erzählt nicht nur unser vertrauter Erzähler, sondern auch Onkel Kasimir und Tante Fini, auch der Psychiater Abramsky, die einiges über des Onkel Adelwarth zu sagen wissen. Es gibt hier also mehrere Ich-Erzähler, die Sebald geschickt im Text einverleibt.

Vielleicht ist ja die dritte Erzählung die schönste, obwohl es ja Unfug ist, hier noch die sog. schönste Erzählung herauszuperlen. Alle Erzählungen sind wunderbar. Sebald bleibt seinem Stil treu. Den Erzählungen liegen wahre Begebenheiten zu Grunde, diese Exilanten hat es wirklich gegeben. Ein Sebald-Lexikon klärt auch auf, wer Max Aurach war. Dieses hat mich doch erstaunt. Man könnte hier wirklich noch sehr viel entdecken. Seitdem ich "Austerlitz" gelesen habe, gehört Sebald für mich zu den großen Deutschen. Ein Platz in Walhalla gefällig?

Max Aurach ist der Maler Frank Auerbach. Aucherbachs Workaholic kommt auch in der Erzählung zur Geltung, er komme oft wochenlang nicht aus dem Haus und arbeite, wenn wir die herrliche Beschreibung von Aurachs Schaffen eines Portraits betrachten, sehr intensiv, wenn nicht verbissen:

Sebald hat geschrieben:Entschloß sich Aurach, nachdem er vielleicht vierzig Varianten verworfen beziehungsweise in das Papier zurückgerieben und durch weitere Entwürfe überdeckt hatte, das Bild, weniger in der Überzeugung, es fertiggestellt zu haben, als aus einem Gefühl der Ermattung, endlich aus der Hand zu geben, so hatte es für den Betrachter den Anschein, als sei es hervorgegangen aus einer langen Ahnenreihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter.
Seite 240

Mir kommt dabei die Assoziation, hinter dem Portrait geistern Gesicher von Juden herum, die den Holocaust nicht überlebt haben. In dem oben gegebenen link zu den Werken des Malers, ist leider nicht das Schwarzweißportrait aufgeführt, welches im Buch angebildet ist, doch auch bei diesen abgebildeten Portraits hat man den Eindruck, der Maler habe diverse Vorstudien übermalt. Sebald hat wunderbar den Eindruck von Auerbachs Portraikunst charakterisiert.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Liebe Grüße
mombour

FINE (leider ist das Buch schon zu Ende[wink])
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von Anzeige » 16.08.2010, 16:40

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Re: Sebald, W. G. - Die Ausgewanderten

Beitragvon Nerolaan » 16.08.2010, 17:09

Das hast du gut zusammengefasst und es freut mich, dass es dir auch so gut gefallen hat.
Ich habe mir ja vorgenommen das Buch dieses Jahr noch einmal zu lesen, wobei ich den Selwyn wohl aussparen werde, weil ich den in der Uni hoch und runter besprochen habe und er mir noch zu gut um Gedächtnis ist.

Kennst du zufällig schon "Die Ringe des Saturns"? Das würde ich gerne als nächstes von ihm lesen.
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Re: Sebald, W. G. - Die Ausgewanderten

Beitragvon mombour » 16.08.2010, 17:34

Nerolaan hat geschrieben:wobei ich den Selwyn wohl aussparen werde, weil ich den in der Uni hoch und runter besprochen habe und er mir noch zu gut um Gedächtnis ist.

Kennst du zufällig schon "Die Ringe des Saturns"? Das würde ich gerne als nächstes von ihm lesen.


Ja, ich habe davon gehört, bei den Germanisten wird er behandelt. "Die Ringe des Saturns" wird mein nächster Sebald sein (habe aber noch nicht entschieden wann ).
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Re: Sebald, W. G. - Die Ausgewanderten

Beitragvon Monika » 17.08.2010, 16:43

Hallo mombour!

Danke für die ausführliche Vorstellung, die meine Freude auf das Buch nochmal erhöht hat. Es liegt auf meinem SuB und wird im nächsten Jahr gelesen. "Die Ringe des Saturn" fand ich noch ein bisschen besser als "Austerlitz", vielleicht weil ich Reiseberichte gerne lese, vielleicht einfach nur, weil es mein erstes Buch von Sebald war. Das werde ich bestimmt nochmal lesen. Du hast auf jeden Fall Recht, Sebald gehört zu den ganz Großen!
Gruß Monika


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