Alexander Umnitzer hat eine niederschmetternde Diagnose bekommen. Krebs. Inoperabel. Wie soll er sich da noch um seinen demenzkranken Vater kümmern. Wie auf der Flucht reist er überstürzt nach Mexiko, in das Land, in das seine Großmutter Charlotte und ihr Mann Wilhelm Powileit, beides Kommunisten und mit Machtübernahme der Nazis in die Sowjetunion geflüchtet, auf Anordnung der KPdSU im Zweiten Weltkrieg emigrierten. Ihre Söhne Kurt und Werner blieben in der UdSSR zurück. Diese wurden wegen Kritik am Hitler-Stalin-Pakt im Jahr 1941 zu langjähriger Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Werner verschwindet dort von der Bildfläche und gilt als verschollen, Kurt heiratet, inzwischen wurde das Urteil in Verbannung gemildert, die Sanitäterin Irina. Mit ihr und dem gemeinsamen Sohn Alexander kommt er 1956 nach Neuendorf bei Berlin zu Charlotte und Wilhelm, die im Jahr 1952 in die DDR kamen, um dort ihren Beitrag zum sozialistischen Aufbau zu leisten.
Mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erzählt Eugen Ruge eine sich an den Geschehnissen in seiner eigenen Familie orientierte Familiengeschichte in zwanzig Kapitel. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern berichtet episodenhaft, sich in der Geschichte hin und her bewegend. Trotz größerer Zeitsprünge war es nicht problematisch sich zu orientieren, über welche Mitglieder der vier Generationen umfassenden Familie berichtet wird. Dank der mit den Jahreszahlen überschriebenen Kapitel konnte man sich als Leser die Zeitfolge problemlos selbst erlesen. Dreh- und Angelpunkt der Handlung bilden der 1. Oktober 1989 und das Jahr 2001. Zu diesen Daten kehrt Ruge immer wieder zurück, um die Ereignisse an Wilhelm Powileits 90. Geburtstag (1989) und Alexanders Mexiko-Reise (2001) aus verschieden Blickwinkeln zu betrachten.
Mehrfach spiegelt sich der Titel im Roman wieder. Viele der Episoden sind im Herbst angesiedelt. Der Kommunismus, der von Charlotte und Wilhelm als höchstes Ziel angesehen wird, verliert von Generation zu Generation an Bedeutung, bis er für Alexanders Sohn, der in seiner eigenen Computerwelt lebt, nicht mehr existent ist. Auch die Gesundheit der Protagonisten ist ähnlich einer herunterbrennenden Kerze. Alexander ist an Krebs erkrankt, sein Vater Kurt hat die Demenz fest im Griff. Irina war Alkoholikerin und Wilhelm und Charlotte – weil ich zu viel verraten würde, schweige ich dazu an dieser Stelle.
Eugen Ruge erzählt diese Geschichte über die mit der Gesellschaftsordnung untergehenden Familie sehr ruhig und sachlich, aber nicht ohne Wortwitz. Dabei ließ er historische Ereignisse eher am Rande einfließen und achtete mehr auf deren Auswirkungen auf die Familie, deren Mitglieder sehr überzeugend charakterisiert wurden. Das Buch lies sich sehr flüssig lesen, die Sprache Eugen Ruges empfinde ich als ausgesprochen angenehm. Als besonders positiv möchte ich hervorheben, dass der Roman weit ab von jeglicher Ostalgie und der Verklärung alter Zeiten geschrieben wurde. Damit hebt er sich wohltuend von anderen ähnlich gelagerten Romanen ab. Eugen Ruge ist mit „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ein wirklich großer Familienroman gelungen, dem ich noch viele interessierte und begeisterte Leser wünsche.
Über den Autor (Quelle: amazon.de)
Eugen Ruge, 1954 in Soswa (Ural) geboren, studierte Mathematik an der Humboldt-Universität und wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Erde. Er war beim DEFA-Studio für Dokumentarfilm tätig, bevor er 1988 aus der DDR in den Westen ging. Seit 1989 arbeitet er hauptberuflich fürs Theater und für den Rundfunk als Autor und Übersetzer. 2009 wurde Eugen Ruge für sein erstes Prosamanuskript «In Zeiten des abnehmenden Lichts» mit dem Alfred-Döblin-Preis, 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
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