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Tellkamp, Uwe - Der Turm




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Tellkamp, Uwe - Der Turm

Beitragvon Krümel » 19.10.2008, 13:08

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Ein sprachliches Experiment von 1000 Seiten.

1984. In Dresden, in einem Villenviertel, wohnen die Familien Hoffmann, Rohde und Tietze. Das sind die Bewohner des “Turms”; Christians Eltern sowie Onkel und Tanten nebst Cousins und Cousinen.
Christians Vater ist Handchirurg (durch ihn zeigt uns der Autor das marode System des Gesundheitswesen), er ist ziemlich undiplomatisch, und tappt von einer Falle in die nächste. Das krasse Gegenteil von ihm, quasi seine Komplementärfigur, spielt Meno Rohde, der Bruder von Anne Hoffmann, Christians Mutter. Er ist Lektor beim Hermes Verlag (hier wird uns gezeigt nach welchen Kriterien Bücher für das System ausgewählt werden), Zoologe und Christians Lieblingsonkel. Sein Charakter schwankt zwischen absoluter Verschwiegenheit und liebevoller Zuhörer.
Diese Großfamilie lebt in Dresden wie auf einer Insel, die es eigentlich nicht hätte geben dürfen, denn sie präsentiert das Bildungsbürgertum im sozialistischen System.
Bei Familienfesten und sonstigen Zusammenkünften wird ganz deutlich ihr Intellekt hervorgehoben, anregende Diskussionen werden geführt, die zum größten Teil staatsfeindlich sind, viele Familienmitglieder sind musikalisch und es wird Hausmusik gespielt, und alle sind hoch belesen. Sie haben dadurch ihre spezielle Nische gefunden, einen Rückzugsort, um den Alltag und den Fesseln zu entkommen.

Und von diesen Menschen erzählt uns Tellkamp den Lebensabschnitt von 1984 bis 89 Mauerfall.

Christian geht 84 noch aufs Gymnasium, und muss sich im vorletzten Schuljahr für drei Jahre zusätzlichen Wehrdienst verpflichten um seinen Wunsch Medizin zu studieren verwirklichen zu können. Man hat zunächst den Eindruck, dass er voll auf seinen Vater kommt, denn durch äußerst unüberlegte Äußerungen und Reaktionen bringt sich diese Figur in größte Schwierigkeiten.
Doch als man ihm beim Wehrdienst auf den Namen Nemo tauft, schlüpft er langsam aber zunehmend in diese introvertierte Außenseiterrolle seines Onkels.

Der Roman ist außergewöhnlich geschrieben. Wer den “Eisvogel” gelesen hat, erinnert sich an den ungewöhnlichen Stil des Bewusstseinsstrom, womit die Ouvertüre des Turms direkt wieder beginnt:

>> - Und hörte die Uhren der Papierrepublik über die Meeresarme klingen tönen schlagen, Gelehrteninsel: Schneckenkegel, der zum Himmel wuchs, Helix, auf den Tisch gezeichnet in Auerbachs Keller, Wohnungen verbunden durch Stiegen, Häuser verschraubt mit Treppen, Gehörgänge auf Reißbrettern entworfen, Spinnweben, die Brücken. << (Seite 9) Eine skizzenhafte Zusammenfassung von Menos Aufzeichnungen über das ganze Buch.

Es folgen viele weitere Sprachvarianten und Prosaarten, immer wieder werden diese Besonderheiten im Buch erscheinen. Eben solche Aufzeichnungen von Meno, auch dessen Tagebuch, die Briefform und Bewusstseinsströme von verschiedenen Figuren, und das alles zusammen erzeugt eine ganz eigenartige Atmosphäre.

Aufgrund des „Eisvogels“ hatte ich mir dieses Buch bereits im Juni vorbestellt und wartete sehnsüchtig auf den zweiten Roman von Tellkamp.
Im ersten Drittel des Buches war ich begeistert von dieser Sprachfülle, dieses experimentelle Schreiben fand ich aufregend und hochinteressant.
Und ganz ehrlich während des Mittelteils hätte ich am liebsten das Buch an die Wand geklatscht! Bei mir war absolut die Puste raus.
Da ich aber mittlerweile davon überzeugt war, dass Tellkamp den Deutschen Buchpreis 2008 gewinnen würde, gab ich nicht auf. Und so bin ich am Ende doch belohnt worden, vielleicht hatte ich mich an diese Sprachkapriolen gewöhnt, auf jedem Fall ist mir mit diesem Buch ein wichtiger Teil unserer Geschichte hautnah erzählt worden.

Ich habe „Profi“- Rezensionen gelesen, in denen „Der Turm“ mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann verglichen wurde, dem möchte ich wieder einmal widersprechen. Denn durch diese enormen Sprachvarianten im „Turm“ bleiben die Figuren ziemlich leblos. Tiefe emotionale Gefühle, welche ich bei den „Buddenbrooks“ sehr wohl empfand, werden durch die kühle und distanzierte Art im Turm nicht transportiert.

Eine Empfehlung für all jene Leser, die recht viel Zeit und Muße besitzen, und sich durch dieses Mammutwerk, welches ein Feuerwerk von sprachlichen Besonderheiten ist, durchbeißen möchten.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
Schwierigkeitsgrad: mittel bis schwer
Zuletzt geändert von Krümel am 31.03.2009, 17:47, insgesamt 1-mal geändert.
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Krümel



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von Anzeige » 19.10.2008, 13:08

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Beitragvon Karthause » 31.03.2009, 15:32

Nach 976 gelesenen Seiten lege ich nun das Buch aus der Hand und ich fühle mich wahrlich wie nach einer Turmbesteigung. Ich war atemlos vom Lesen, habe mich durch einige Abschnitte gequält und zwischendurch immer wieder die Rückblicke genossen. Um es auf den Punkt zu bringen, dieses Buch zu lesen bedurfte schon einiger Anstrengung, besonders bei den experimentellen Passagen. An sich gefiel mir der Stil Tellkamps sehr gut. Die verschiedenen Spielarten des Sprachgebrauchs, die Wortgewalt, die Sprachgewandtheit und der immer wieder hervor blitzende Witz, das Überzeichnen bis ins Groteske beeindruckten mich. Diese Bandbreite der Sprache und dann die Verbindung von Dialogen, Beschreibungen, Briefen und Tagebüchern in anderen Romanen vorgefunden zu haben, kann ich mich im Moment gar nicht erinnern. Jedes Kapitel las sich anders, manche lasen sich leicht und flüssig, andere waren eine Herausforderung. Manche Stellen mussten förmlich erarbeitet werden und nicht immer war mir danach klar, was der Autor damit nun wirklich zum Ausdruck bringen wollte. Dann gab es wieder Stellen voller Poesie, die so gar nicht zum zuvor genannten K(r)ampf-Lesen passten, die einfach nur schön waren. Eigentlich passte jedes Wort, auch wenn manche im ersten Augenblick ungewohnt oder ungebräuchlich waren. Bemerkenswert fand ich auch, dass Tellkamp es bis zum Ende hin durchhielt jeder Person seinen eigenen Sprachstil zuzugestehen.

Erinnerungen wurden wach und das „Weißt du noch…?“ stand ab und an im Raum. Bei einigen der Protagonisten drängten sich Parallelen zu real existierenden Persönlichkeiten förmlich auf. Tellkamp sprach viele kleine Alltagsdinge an, die mich auch schon mal schmunzeln ließen, ob das nun die Mintkissen, mein geliebter grüner Parka aus Jugendtagen oder der Minolpirol war. Stellenweise gab es jedoch eine richtige Flut solcher Dinge, weniger wäre in dem Fall nicht weniger authentisch gewesen.

Die Protagonisten wurden vom Autor gut gewählt und ebenso gut in Szene gesetzt. Allerdings fehlte ihnen häufig das, was den Menschen letztlich ausmacht, das Gefühl. Oft erschienen sie mir in Situationen, die Gefühl forderten, blutleer und kalt. Ein ausführlicheres Personenverzeichnis wäre wünschenswert gewesen.

Gefallen hat mir die Aufmachung des Buches mit der Karte auf den Buchinnenseite. Dort wurden die wichtigsten Handlungsorte in die Dresdner Umgebung gebracht, eine DDR im Kleinformat.

Mein Fazit: „Der Turm“ ist ein für mich einzigartiger Roman. Selten musste (wollte) ich mich durch ein Buch so hindurch arbeiten und empfand dabei noch Freude. Es ist ein monumentales Werk, ein Epos, mit ein paar kleinen Schwächen. Ich hoffe auf einen zweiten Teil, Tellkamp bezeichnet ihn als Wenderoman, endet aber genau 1989. Ich wäre neugierig, wie die Türmer die neue gesellschaftliche Situation erleben. Da geht doch noch was, Herr Tellkamp, oder?

:stern: :stern: :stern: :stern:
Viele Grüße
Karthause

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