Re: McCann, Colum "Der Tänzer"
von Squirrel » 21.12.2014, 18:10
Über den Autor:
Colum McCann (geb. 28.2.1965) ist ein irischer Schriftsteller, Journalist und Drehbuchautor, der seit über 20 Jahren mit Familie in New York lebt. Er hat in Dublin Journalismus studiert und in diesem Beruf gearbeitet, ehe er in die USA auswanderte. Neben 6 Romanen (u.a. „Der Tänzer“, ein Roman über Rudolf Nurejew) hat er auch 2 Kurzgeschichtenbände veröffentlicht. (Quelle: Wikipedia)
Buchinhalt:
Dieses Buch nähert sich einem berühmten Mann: dem Tänzer Rudolph Nurejew, Lichtgestalt des modernen Balletts, kaum sichtbar in all seinem Glanz. Die Lebensdaten sind bekannt, doch McCann interessieren sie nur am Rande. Er lässt den Menschen vor dem Hintergrund seiner Zeit erstehen: diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Kalter Krieg und Erstarrung auf der einen, rauschendes Kultur- und Partyleben auf der anderen Seite. Wie in einem lyrisch choreographierten Tanz nähert McCann sich Nurejew, entfernt sich wieder, um ihn erneut zu finden, zu berühren. (Quelle: Perlentaucher)
Untergliedert ist das 468 Seiten umfassende Buch in 4 numerierte Bücher mit teils mehreren Kapiteln, die mit Orts- und Jahresangaben versehen sind. Vorangestellt sind ein Zitat über das Wesen von Erinnerungen aus Willliam Maxwells "Also dann bis morgen" sowie eine kurze Liste der Dinge, die Nurejew in Paris 1961 angeblich auf die Bühne geworfen wurden. Das Buch endet mit einem Auszug aus der Versteigerungsliste von Nurejews Besitz sowie einer Danksagung.
Meine Meinung:
Selbst diejenigen, die sich nicht für Ballett interessieren, haben oftmals wenigstens den Namen schon gehört: Rudolf Nurejew! Der Star der 60er und 70er Jahre auf allen großen Bühnen der Welt; der langjährige Partner der Primadonna assoluta Margot Fonteyn; der Mann, der das Ballett in der westlichen Welt zu neuen Höhenflügen führte. Ein Besessener, ein Getriebener, der alle andren genauso antrieb wie sich selbst. Der Mann war der Tanz in Person und gleichzeitig ein Charismatiker, der alle in seinen Bann zog. Ein Tatar von Geburt, der wohl in seinem Charakter all die Wildheit und Ungezähmtheit zeigte, die der unbedarfte westliche Mensch hinter diesem Volksstamm noch heute sucht und vermutet. McCann setzt ihm in diesem Roman ein Denkmal – und er setzt gleich vorneweg den einführenden Satz: „Dies ist ein Roman.“ Er legt also keinen Wert auf biografische Echtheit außer bei einigen bekannten Persönlichkeiten, aber er schreibt eine derart wunderbare Geschichte mit so viel Kraft, die einen sofort in ihren Bann zieht, dass man geneigt ist, jedes Wort zu glauben, das hier steht.
McCann führt meist chronologisch durch das Leben dieses faszinierenden Menschen, beginnend während des Zweiten Weltkriegs in Russland. Er lässt Nurejew nie selbst zu Wort kommen, stets wird er durch andere gezeichnet und charakterisiert. Aber diese bunten Fascetten geschildert von den unterschiedlichsten Menschen in seiner Umgebung werden dem Charakter vielleicht sogar am besten gerecht. Zu Wort kommen seine Familie, einfache Menschen aus seiner Umgebung in Ufa, wo er bis zu seinem 17. Lebensjahr lebte, über bekannte Choreographen und Tänzer wie seinen langjährigen Lebensgefährten Erik Bruhn bis hin zu bizarren Charakteren, die das wilde und abgefahrene Jet-Set-Leben symbolisieren und gleichzeitig die drohende Gefahr der AIDS-Epidemie andeuten. Enden lässt McCann seinen Roman mit dem gleichzeitig ersten und letzten Besuch Nurejews in seiner Heimat 1987, als er in Zeiten von Perestroika und Glasnost rehabilitiert wurde und man ihm erlaubte, noch einmal seine Familie in Ufa und Freunde in Leningrad zu besuchen. McCann hat es nicht nötig, die letzten kranken Jahre dieses Ausnahmetalents an die Öffentlichkeit zu zerren – es reicht die leichte Andeutung, mehr braucht es nicht. Dafür ziehe ich meine Hut, denn das zeichnet einen für mich großen Autoren aus.
McCann zieht in diesem Buch alle Register seines schriftstellerischen Könnens. Zeichnet er am Anfang ein brutales Bild des Leidens der Soldaten unter der grausamen Wirklichkeit des russischen Winters, so schwenkt er in eine kühle, doch einfühlsame Beschreibung darüber, wie das Leben nach dem Krieg in der gesperrten Stadt Ufa hätte gewesen sein können, wie die einfachen Menschen versuchen, mit dem Leid und dem Mangel zurecht zu kommen und ein menschenwürdiges Leben zu leben. Er schafft es, all die unterschiedlichen Charaktere zum Leben zu erwecken, Bilder vors Auge zu zaubern, gleich in welchem Teil der Welt wir uns bewegen. Er zaubert eine eigene Atmosphäre in alle Lebensabschnitte, sei es Rudiks karge Kindheit, die Ausbildungsjahre in Leningrad, sein Beginn in Paris und London, die wilden überbordenden Jahre auf der ganzen Welt, in der Nurejew alles mitnahm, was das Leben bieten konnte und für die er am Ende den Preis bezahlte. Gleichzeitig gewährt er immer leise Einblicke in die Seele dieses gebildeten, sich bildenden Menschen, der aber durchaus nicht immer sympathisch und mehr als einmal ein richtig überheblicher Kotzbrocken ist, und der Menschen, die ihm nahe standen. Darüber hinaus ist McCann in der Lage, die Bedrückung, die Überwachung, die Unterdrückung derer zu beschreiben, die Nurejew in Russland zurücklässt und die einen hohen Preis dafür zahlen müssen, mit ihm bekannt oder verwandt zu sein.
Im Stil ist alles enthalten: ruhige Passagen, kurze hektische Abschnitte, die seine Besessenheit zum Ausdruck bringen, ein „Parforce-Ritt“ (dieser passende Ausdruck stammt leider nicht von mir, den hab ich irgendwo gelesen) durch das wilde New York der 70er Jahre, in dem er in einem Satz, der über 50 Seiten geht, die Wildheit und Ausschweifungen zum Ausdruck bringt, die dunkle Seite im Leben des Rudolf Nurejew, um am Ende wieder einfühlsam seine Heimkehr, seine Sehnsucht nach der Familie zu zeigen, aber auch seinen Abstieg, das langsame Versagen des gequälten Tänzer-Körpers anzudeuten.
Verwirrend ist oftmals die Ich-Perspektive der Erzählungen, denn es ist nicht immer sofort ersichtlich, wer da gerade spricht. Diese Wechsel sind manchmal etwas anstrengend, aber in der Regel ist schnell klar, wer der Erzähler ist.
Mein Fazit:
Ein beeindruckender Roman, der mir persönlich stilistisch nicht in allen Bereichen gefallen hat (ich mag es nicht, durch eine Geschichte getrieben zu werden, auch wenn es perfekt zum Thema passt), der aber jede Zeile und jede Leseminute wert war. Er macht neugierig auf mehr – über Nurejew, Margot Fonteyn und auf mehr von McCann!
viele Grüße vom Squirrel