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Mulisch, Harry - Das Attentat

10.12.2006, 20:39

Jänner 1945, Haarlem, Holland.
Vor dem Haus der Familie Steenwijk wird ein nazifreundlicher holländischer Polizist von Widerständlern erschossen. Die deutsche Besatzung macht kurzen Prozess, fasst den Täter, erschießt in einem Akt der Willkür das Ehepaar Steenwijk sowie deren Sohn Peter. Das Haus wird in Schutt und Asche gelegt. Anton, der damals 12-jährige Sohn ist der einzige Überlebende. Nach einer Nacht im Gefängnis wächst er dann bei Verwandten auf und führt eigentlich ein recht „normales“ Leben.


In insgesamt 5 „Episoden“ im Zeitraum von 1945 bis 1981 wird das Leben des Anton Steenwijk erzählt, der eigentlich dieses Erlebnis verdrängen und die Vergangenheit ruhen lassen will. Doch immer wieder wird er mit Menschen und Szenen konfrontiert und das Erlebte begleitet und überschattet sein Leben.
Der Stil ist nüchtern, fast beiläufig wird die Geschichte „erzählt“, ohne aber Distanz zum Protagonisten zu erzeugen.

Es ist die Frage nach der Schuld, die sich wie ein roter Faden durch das 200-Seiten-Buch zieht.
Sind die Deutschen schuld? Sind es die holländischen Kollaborateure oder gar die Widerständler, die den Polizisten erschossen haben? Wären da noch die Nachbarn, die auch ihre Finger im Spiel hatten ….

Anton beginnt zu verstehen, dass es keinen „Schuldigen“ gibt, bzw. dass man, um die Schuldfrage zu klären, wohl bis zu Adam und Eva zurückkehren muss.

Ein Satz ist mir aufgefallen, es geht um die Namensgebung bei Kindern:
„Erst wenn es wieder Adolfs gibt, haben wir den 2. Weltkrieg wirklich überwunden“


Es gibt viele Bücher, die sich mit der Vergangenheitsbewältigung und dem Thema 2. Weltkrieg beschäftigen. Aber dieses Buch behandelt die Thematik in einer Form, die mich sprachlos macht. Neben Imre Kertesz’ „Roman eines Schicksallosen“ ist „Das Attentat“ für mich ein ganz wichtiges Buch, das jeder gelesen haben sollte! Aufrüttelnd, nüchtern, ohne anzuklagen, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Besserwisserei und es hinterlässt das Bewusstsein, dass man sehr vorsichtig sein soll mit Pauschalverurteilungen und Schuldzuweisungen!

Ganz große Literatur!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild

10.12.2006, 20:39

10.12.2006, 21:12

Danke, @Pippilotta, für die ansprechende Rezension. Das Buch steht schon eine ganze Weile ungelesen bei mir im Regal. Ich hatte kurz überlegt, es auf meine SUB-Liste 2007 zu setzen. Das habe ich nun nicht getan, ich werde es aber, da du mich neugierig gemacht hast, wohl trotzdem bald lesen. :wink:

Liebe Grüße
Siebenstein

11.12.2006, 08:55

Mich hat deine Rezension ebenfalls sehr angesprochen. Wieder ein Buch für meine Wunschliste. :D

11.12.2006, 17:47

Ja, wie gesagt, ich kann es nur empfehlen. Das Buch beschäftigt mich immer noch.

Es unterscheidet sich in ein paar Punkten von "herkömmlichen" Vergangenheitsbewältigungsbüchern.

- Der "Holocaust" ist in diesem Buch kein Thema. Die betroffene Familie ist keine jüdische Familie.

- Es wird auch von einer Schwarz-Weiß-Malerei Abstand genommen. Es handelt nicht von den "bösen Deutschen" gegen den Rest von Europa.

- Das Buch tut wirklich gut, weil einem gerade eben dieses "Schuldgefühl" das uns (bzw. Euch Deutschen) immer wieder suggeriert wird, genommen wird. Manche Zeitgenossen meinen ja immer noch, wir müssen den Kopf jetzt noch hinhalten für das, was im 2. WK geschehen ist.

Deshalb gilt meine besondere Empfehlung auch Krümel, von der ich weiß, dass sie sich grundsätzlich für das Thema interessiert, aber manche "Ausschlachtungen" der Thematik wirklich satt hat. :thumleft:

Außerdem verzichtet Mulisch hier auf seine Philosophie-Exkurse, denen ich in anderer seiner Bücher ("Die Entdeckung des Himmels", "Siegfried") teilweise nur schwer folgen konnte. Es gibt natürlich Reflexionen über Vergangenheit/Zukunft/Zeit, aber die waren leicht verständlich und sehr plastisch!
Zuletzt geändert von Pippilotta am 11.12.2006, 19:06, insgesamt 1-mal geändert.

11.12.2006, 19:04

Danke, Pippi. Du hast mich richtig neugirig gemacht. Ich habe es schon auf meinen Wunschzettel geschrieben.

26.02.2007, 14:25

Als erstes ein Dankeschön an Pippi, die das Buch so ansprechend beschrieben hat und als zweites eines an Salome, die es mir schenkte! :danke:

Ich habe die Ruhe des Urlaubes genutzt, um den Roman zu lesen und war ebenso angesprochen wie Pippi. Viel kann ich nicht mehr zu ihrer Rezension hinzufügen, aber ich will versuchen, meine Meinung zu formulieren.

Obwohl ich ja schon wusste, wovon das Buch handelt, blieb es packend bis zum Schluss - wobei "packend" nicht "spannend bis zum Umfallen" bedeutet sondern eher "aufrüttelnd".

Das Geschehen in der schicksalhaften Nacht ist unmenschlich und abstoßend. Doch im Laufe des Romans erlebt man zusammen mit Anton, dass die abstrakten Bgriffe "Gut und Böse" in Extremsituationen nicht so einfach zu bestimmen sind, wie man glauben mag. Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, die je nach Motiv anders ausgestaltet ist.

Mulischs Spiel mit den Begriffspaaren "Licht und Schatten" und "Gut und Böse" zieht sich bis zum Schluss und dient unterschwellig zur Illustration der Schuldfrage.

Ich war sehr beeindruckt, umso schwerer fällt, es hier potentiellen Lesern nicht zuviel vorweg zu nehmen.

Eindeutig: :stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

26.02.2007, 16:11

Da das mit den Empfehlungen eh immer so eine Sache ist .... freut es mich umso mehr, dass Dir das Buch so gut gefallen hat!

19.07.2009, 14:57

[center]Erst wenn es wieder Adolfs gibt, haben wir den 2. Weltkrieg wirklich überwunden (Harry Mulisch - Das Attentat)[/center]

Anton Steenwijk ist gerade 12 Jahre alt, als er in den Tücken des 2.Weltkrieges seine Familie verliert.
Und die Geschichte dieses Verlustes beschäftigt Anton auch noch Jahrzehnte später, als der Krieg schon lange vorbei ist und Anton längst seine eigene Familie hat....

In Das Attentat verarbeitet Harry Mulisch die Schrecken des 2.Weltkrieges auf seine Art.
Dabei legt er allerdings seinen Schwerpunkt nicht auf die Geschichte einer verfolgten jüdischen Familie, sondern zeigt, dass eben auch das Volk im allgemeinen immer wieder leiden musste.
Das ist in Abgrenzung zu den ganzen jüdischen Schicksal angenehm zu lesen.

Das Buch ist zusätzlich gleichzeitig leicht und unbeschwerlich zugleich, trotz der mehr als ernsten Thematik, da der Autor auf Gefühlsduseleien verzichtet. Es ist fast so, als ob man einen Tatsachenbericht liest.

Dennoch: trotz dieser Stärken, kreide ich dem Buch irgendwie seine Kürze von 189 Seiten an. Ich kann mich leider meinem Bauchgefühl nicht erwehren, dass ich mir einiges ausführlicher gewünscht hätte und das obwohl ich im allgemeinen schon der Meinung bin, dass der Roman alles enthält was er brauchte.

:stern: :stern: :stern:
Zuletzt geändert von Nerolaan am 20.07.2009, 17:54, insgesamt 2-mal geändert.

20.07.2009, 05:36

äh Nerolaan, erklärst Du mir bitte die Überschrift Deiner Rezi, ich verstehe sie nicht. :-(

20.07.2009, 07:34

@Coco: ich habe in meiner Rezi auch Bezu auf diesen Satz genommen .... vielleicht erklärt das einies!

Für mich ist bei diesem Buch wieder einmal "weniger mehr". Ich liebe solche Bücher, die auf wenigen Seiten enorm viel transportieren. Meiner Meinung nach würde der Inhalt auf 500 Seiten bei Weitem nicht so eindringlich sein.

20.07.2009, 10:27

Coco hat geschrieben:äh Nerolaan, erklärst Du mir bitte die Überschrift Deiner Rezi, ich verstehe sie nicht. :-(

Der Satz ist mir bis heute hängen geblieben. Jetzt weiß ich auch wieder, aus welchem Buch er kam. Danke :wink:

20.07.2009, 17:37

Danke Pippi, ich hatte nicht alle Beiträge gelesen :wink:

20.07.2009, 17:56

Coco hat geschrieben:äh Nerolaan, erklärst Du mir bitte die Überschrift Deiner Rezi, ich verstehe sie nicht. :-(


Pippi war schneller, sorry! :oops: Hab es aber in meinem Post abgeändert und hoffe, dass die Passage jetzt deutlicher als Zitat zu erkennen ist...

Pipplotta hat geschrieben:ür mich ist bei diesem Buch wieder einmal "weniger mehr". Ich liebe solche Bücher, die auf wenigen Seiten enorm viel transportieren. Meiner Meinung nach würde der Inhalt auf 500 Seiten bei Weitem nicht so eindringlich sein.


Mhm, ich hätte auch nicht gerne einen 500 Seitenwälzer gelesen. Aber ich kann mich meinem Bauchgefühl einfach nicht verwehren, dass 30 Seiten mehr schöner gewesen wären... :oops:

Re: Mulisch, Harry - Das Attentat

07.04.2011, 08:29

Bevor ich "Die Entdeckung des Himmels" lesen wollte, habe ich erst Mal zu diesem Buch gegriffen. Ich bin etwas zwiegespalten mit meinem Leseeindruck. Es gab da ein oder zwei Punkte, da hatte der Zufall doch –der Dramatik willen- arg nachgeholfen.
Allerdings brachte das Ganze ja dann wieder neue Überlegungen hervor. Wie geht man mit so einer Tat um? Wie geht es demjenigen, der eigentlich unschuldig war und trotzdem leiden musste? Wie geht man miteinander um?
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