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Dinev, Dimitré - Engelszungen




Dinev, Dimitré - Engelszungen

Beitragvon Pippilotta » 09.04.2007, 19:35

[center]Dimitré Dinev - Engelszungen[/center]

Dimitre Dinev: (wikipedia)

Geb. 1968 in Plovdiv, Bulgarien. Er machte 1987 am Deutschen Gymnasium in Pasardschik Abitur. 1990 floh er über die „Grüne Grenze“ nach Österreich, wo er aufgegriffen und zunächst im Flüchtlingslager Traiskirchen einquartiert wurde. Nachdem ihm Asyl in Österreich gewährt wurde, studierte er in Wien Philosophie und russische Philologie und lebt heute als freier Schriftstleller.

Werke:
- Die Inschrift" (Erzählungen), 2001
- Engelszungen (Roman), 2003
- Ein Licht über dem Kopf (Erzählungen), 2005


Engelszungen

Die beiden aus Bulgarien stammenden Migranten Svetljo und Iskren treffen einander am Grab des Serben Miro am Wiener Zentralfriedhof. Beide sind finanziell am Ende, beide sind gestrandete Kreaturen und erhoffen sich vom mittlerweile toten „Engel der Einwanderer“, der mit seinem Handy begraben werden wollte, eine Lösung für ihre miserablen Lebenslage.

Mit dieser zugegebenermaßen skurilen Ausgangsposition beginnt ein Familienepos der Sonderklasse mit dem Hintergrund des Bulgariens des 20. Jahrhunderts.

Autor Dimitré Dinev in einem Interview auf www.buchkritik.at:

Außerdem glaube ich, dass die schrecklichsten und grausamsten Geschichten nur durch Humor vermittelbar sind. Sie werden erträglich, ohne dabei an Wirkung und Ernst zu verlieren. Sie bleiben so auch länger im Bewusstsein haften, denn man erinnert sich viel lieber an das worüber man gelacht hat. Also habe ich mich für diesen Stil mehr oder weniger bewusst entschieden.


Es ist wiederum der Stil und die Erzählweise, die dieses Buch so fesselnd machen. Den Haupterzählstrang dieses 600 Seiten umfassenden Buches machen die Kindheitsschilderungen der beiden Protagonisten aus, die in der Zeit der Diktatur unter Todor Schiwkows aufwachsen. Iskren ist der Sohn eines einflussreichen Parteiorgans, er besucht die deutsche Schule, ihm stehen die Türen offen. Svetljo stammt aus ärmeren Verhältnissen und lernt das Leben von der anderen Seite kennen. Beide haben es mit sehr autoritären Vaterfiguren zu tun, beide wachsen im selben Dorf auf, doch sie begegnen einander nie bewusst. Immer wieder – sei es durch Personen, durch Orte oder durch Ereignisse – werden die Schicksale der beiden Familien verwebt, eingeworfene Anekdoten, aberwitzige Ideen und köstliche Details machen das Buch zu einem Gesamtkunstwerk

Nebenbei erfährt man von der Geschichte Bulgariens vom 2. Weltkrieg, über die Revolution 1990 bis zur heutigen Zeit, von den Ängsten und Hoffnungen der Emigranten, von den Problemen, mit denen sie im Westen zu kämpfen haben.

Besonders zu betonen ist auch, dass Dinev dieses Buch – obwohl seine Muttersprache nicht Deutsch ist – auf Deutsch geschrieben hat! Ich hatte vor einigen Wochen das Vergnügen, eine Lesung von Dimtré Dinev zu seinem Buch "Ein LIcht über den Kopf" zu besuchen. Der Autor machte einen sehr bescheidenen, überaus humorvollen Eindruck, der Spaß am Schreiben hat, selber schon viel erlebt hat und weiß wovon er schreibt!

Für mich ein absolutes Lesehighlight 2007, eine echte Empfehlung!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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Beitragvon Krümel » 09.04.2007, 20:43

Ich habe mir das Buch direkt einmal bestellt, das hört sich doch irgendwie sehr witzig aber auch tiefgründig an :D
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon marilu » 09.04.2007, 20:46

"Engelszungen" steht schon auf meiner Wunschliste seit du von der Lesung erzählt hast. Deine Rezension bestärkt mich noch in dem Wunsch, es zu lesen! :thumleft:
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Beitragvon schnecke » 10.04.2007, 08:52

Das fehlt aus irgendwelchen Gründen in meiner Unbedingtnocheinmallesenliste, die ich hier so schnell gschrieben habe - das war nämlich eines meiner Highlights 2006!

Besonders beeindruckt hat mich neben einem ganz neu erwachten Interesse an Bulgarien (das man mir erst mal entlocken können muss!) ebenfalls die Sprache! Ich liebe ja die deutsche Sprache, wenn jemand gut damit umzugehen weiß, und genau das macht Dimitré Dinev, er schreibt wirklich wunderschön!

(Ich könnt mich in den Hintern beissen, dass ich diese Lesung versäumt habe! :cry: )
schnecke
 

Beitragvon Pippilotta » 10.04.2007, 18:06

Ich muss auch sagen, dass dieses Buch sicherlich ein "Geheimtipp" ist.

Hätte ich es in der Buchhandlung liegen sehen, hätte ich es nie und nimmer mitgenommen. Erstens ist das Cover der Taschenbuchausgabe schrecklich grün, zweitens ist das Buch vom Umfang her nicht sehr einladend (600 Seiten) und drittens hatte ich mit der Geschichte Bulgariens eigentlich gar nix am Hut.

Die Empfehlung kam von einer Lesekreis-Kollegin (die so ziemlich den gleichen Buchgeschmack hat wie ich), sie hatte es mir ans Herz gelegt und ich bin ihr noch lange dankbar dafür!

Also: nicht abschrecken lassen! Weder vom Klappentext, noch vom Umfang, und schon gar nicht vom Cover! :wink:

@Schnecke: ich hätte dich sehr gerne mitgenommen zur Lesung! Schade, dass wir uns da noch nicht gekannt haben!
Herzliche Grüße
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Beitragvon tom » 14.04.2007, 21:55

Das Buch landet auf meiner Wunschliste und dann bald hoffentlich auf dem SUB. Es ist schade, dass wir meistens die Länder des Balkans oder Mitteleuropas literarisch nicht so gut kennen... Bulgarien ist, glaube ich, ein weißer Fleck auf meiner Literaturlandkarte.
tom
 

Beitragvon Krümel » 10.10.2007, 18:17

Leider hat mich dieser Roman nicht vom Hocker gerissen! :-(

Dieser Wälzer erzählt die Lebensgeschichten zweier Bulgaren.
Zunächst wird von Iskren berichtet: Sein Vater ist ein hoher Beamter der bulgarischen Volksmiliz; und sein Großvater mütterlicherseits saß wegen fehlendem Klopapier schon einmal in einem Strafgefangenenlager der Miliz. Seine Großmutter übernimmt eigentlich die Erziehung, und nach ihrem Tod, und dem nahendem Ende des Kommunismus, entwickelt er eine äußerst kriminelle Neigung.
Der andere Protagonist nennt sich Svetljo: Sein Vater ist der Folterknecht der Miliz; und sein Großvater väterlicherseits wird als großer Partisan gefeiert. In dieser Familie spricht man nicht viel, und so schweigt auch Svetljo jahrelang; er ist eher in sich gekehrt und trägt viele gute Anlagen in sich.
Die beiden Väter der Hauptfiguren sind aus privaten Gründen zu Gegnern geworden, und so verwickeln sich die Lebensläufe der Heranwachsenden; wo immer wieder eine Figur aus dem jeweiligen anderen Stammbaum und Umfeld auftaucht, und unbewusst etwas im Leben der anderen Familie verändert, zwar parallel, aber erst ganz zum Schluss lernen sie sich kennen.

Der Roman erzählt auf dieser Basis die Geschichte Bulgariens, und das mit sehr viel Humor. Diesen Frohsinn fand ich zu Beginn sehr passend, da die Engelsfigur “Miro” die Handlung noch auflockerte. Doch diese Figur verschwindet direkt nach vierzig Seiten, und nur die tragischen Geschichten der Helden werden weiterhin beschrieben. Allerdings behält Dinev diesen ironischen Humor sowie seine Wortspielereien bei, welches ich bei der Tragik häufig als sehr unpassend empfand.
Ab der Mitte des Werks ändert sich dann die Sprache des Autors, sie wird ernster, vielleicht weil die Protagonisten zu jungen Männern reifen.
Zum Schluss wirkt mir das Buch zu moralisch, denn am Ende rechnet Dinev mit jeder Figur im Roman ab; “die Guten ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen”, was immer eine sehr heikle Sache ist.

Insgesamt hat mir dieser Wälzer jedoch ganz gut gefallen, weil er uns die Geschichte Bulgariens näher bringt. Er zeigt uns wie Menschen in kommunistischen Regimes leben mussten und müssen; als heimlich entgegengesetzt, als Mitläufer oder getarnter Mitläufer. Er schildert dieses illusorische Denken, so dass man als Leser ganz sehr klar erkennt, wo und wie die Grenzen verlaufen. Und das sind eindeutig die Stärken dieses Romans!

Bewertung: :stern: :stern: :stern: / :stern:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon Coco » 11.10.2007, 11:18

Ich habe ein wirklich großartiges Buch gelesen, das mich sehr schnell in seinen Bann ziehen konnte.
Die parallel erzählten Familiengeschichten von Iskren und Svetljo sind mit sehr viel Gefühl beschrieben, die Personen wirken authentisch, wunderbar sind die Ausflüge in die Phantasie und einfühlsam die Gedankenwelt der beiden Protagonisten im Kindesalter.

Einzig zwei Sachen habe ich zu bemängeln:

1. Leider habe ich sehr wenig über das Land Bulgarien erfahren. Die politische Situation und ihre Auswirkungen hätte -meines Erachtens - auf jedes andere kommunistisch regierte Land zutreffen können. Was macht Bulgarien unverwechselbar, was sind die "Eigenarten" der Bulgaren, was ist typisch "bulgarisch" ? Schade, Dinev hätte uns sein Land noch etwas näher bringen können.

2. Das Ende war mir denn doch zu "perfekt": Die Väter der Protagonisten kommen beide zu einer "späten Einsicht" und es finden noch große Veränderungen in ihrem Leben statt. Das gleiche gilt für Miro, zeitlebens ein Krimineller, verwandelt er sich am Ende seines Lebens zu einem "Engel" .... schön, wenn das Leben so wäre.

Aus diesem Grunde wird das Buch von mir mit

:stern: :stern: :stern: :stern:

bewertet.
Aber Dinev hat Talent. Ich hoffe, noch mehr von ihm lesen zu dürfen und wie Krümel bereits an anderer Stelle sagte, er ist noch jung, da ist noch ein großer Entwicklungsspielraum.
Liebe Grüsse
Coco

-----------

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