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Hein, Christoph - Der Tangospieler




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Hein, Christoph - Der Tangospieler

Beitragvon tom » 21.04.2007, 08:30

Zum Inhalt:
Nach 21 Monaten wird Dallow aus der Haft entlassen und kehrt nun, am Anfang des Romans, 1968, in seinen langjährigen Wohnsitz Leipzig zurück. Für eine „Dummheit“ und nicht ein Verbrechen war er im Knast gewesen: er hatte auf dem Klavier ohne Hintergrundwissen oder „schlechte Absichten“ einen regimekritischen Tango begleitet. Nun soll er auf Anraten vieler „alles vergessen“. Ist es Rückgrat oder Trotz, wenn er nun die falschen Kompromisse ablehnt und sich in seinem Widerspruch behauptet? Die Frage ist wohl berechtigt: er, der ehemalige Historiker, entwickelt allem gegenüber eine merkwürdige Gleichgültigkeit: „er will mit allem nichts zu tun haben“, auch nicht mit den Vorkommnissen in Prag, die immer wieder auftauchen. Und: gleichzeitig flüchtet er ins Vergnügen, in eine endlose Anzahl von vorbeihuschenden Liebschaften, deren Identität, Namen selbst verborgen bleiben bis auf Elke, mit der er halb fürchtend, halb der Tollheiten überdrüssig, etwas Stabileres anvisiert. Die von ihr eingeforderte Sicherheit eines Arbeitsplatzes (denn er hatte anfangs erst mal von seinen Ersparnissen gelebt) „endlich damit abzuschließen“ bringt ihn zur Suche nach Arbeit, wobei er allerdings zunächst scheitert aus aber nicht eindeutiger Einflussnahme durch die Stasi. Wie wird sich Dallow entscheiden?

Zum Autor:
Christoph Hein wuchs in der Kleinstadt Bad Düben bei Leipzig auf. Da er als Sohn eines Pfarrers kein Arbeiterkind war und er keinen Platz an einer Erweiterten Oberschule bekam, ging er bis zum Mauerbau auf ein Westberliner Gymnasium. Nach dem Mauerbau arbeitete er als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und Regieassistent. 1964 legte er sein Abitur an der Abendschule ab. In Berlin und Leipzig studierte er zwischen 1967 und 1971 Philosophie und Logik. Danach wurde er Dramaturg und Autor an der Volksbühne in Ost-Berlin. Seit 1979 arbeitet er als freier Schriftsteller.
Als Übersetzer bearbeitete er Werke von Jean Racine und Molière. Von 1998 bis 2000 war Christoph Hein erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs. Er war bis Juli 2006 Mitherausgeber der Wochenzeitung Freitag. Christoph Hein hat zwei Söhne, der jüngere ist der Schriftsteller und Arzt Jakob Hein. Hein ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste.

Ein paar persönliche Gedanken:
Man könnte diese 1989 gerade vor der Wende geschriebene Erzählung erst einmal als Beschreibung eines Schicksals in der totalitären DDR auffassen: die Absurdität der Anklage, der Gefängnisstrafe, als auch die ständige Kontrolle in einem Stasi-/Polizeistaat, wie letztlich auch die etwas absurde Auflösung. Man lernt, wie jemand sagte, wie man in diesem Staat also gelitten hat, bzw. haben konnte. Und der Autor, Christoph Hein, steht an guter Stelle, um sich aus eigenen Erfahrungen ein Urteil erlauben zu können. Dies könnte man vielleicht als den „gesellschaftspolitischen Aspekt“ herausstreichen. Für mich mit Familienbanden hin zur ehemaligen DDR ist das nachvollziehbar: Es gab dort Entscheidungen und Gesellschaftsstrukturen, die absurd waren und Leid schufen.
Beim Lesen des Buches taucht für mich aber doch die Frage auf, wie der Einzelne damit umgeht/umgehen kann: Bleibt nur die Flucht in die Verweigerung oder eine Gleichgültigkeit? Oder kann man sich eine andere Möglichkeit vorstellen? M.E.: ja, doch dies benötigte noch eine ganz andere Art von Rückgrat als das von Dallow, scheint mir. Wo finde ich die Kraft, eine Absurdität und auch Leid mit erhobenem Haupt zu begegnen? (Ich musste an die Lebensgeschichte von Nelson Mandela denken...) Kann man sich damit begnügen, sich als Opfer zu verstehen, selbst wenn dies wahr wäre?
Der Autor deutet an, wie die Erfahrung des Gefängnisses nicht einfach abgelehnt werden kann, selbst wenn ihr eine Unschuld vorangeht. Übrigens wird von der Haft selbst kaum etwas erzählt; dennoch ist sie allgegenwärtig und –bestimmend. Das einmal erlittene Unrecht tragen wir ein Stück weit in uns: Dallow spricht von dem „Fuß der noch im Gefängnis ist“ oder auch der Art Heimatlosigkeit, die die neu gewonnene Freiheit trotz allem beinhaltet. Diese Gedanken erinnern mich ein wenig an die hervorragende Kurzgeschichte von Thomas Bernhard „Der Ketterer“. Vielleicht hätte Hein hier noch weiter gehen können anstatt sich immer wieder in den anonymen Geschlechtsbeziehungen zu ergehen?
Auch der Wunsch, „dazu-zu-gehören“ taucht auf, jene „Unmöglichkeit“, in der Absonderung zu leben?
Aber manche dieser Bemerkungen sind vielleicht von den eigenen Freiheiten gezeichnete eines letztlich „Westdeutschen“?!
Ich gab dieses Buch an einen ehemaligen "DDR-Bürger" weiter, der von Heins Sichtweise und Erzählen sehr beeindruckt war: er fand sich also in dieser Schau wieder!

Vielleicht seht Ihr noch andere Denkanstöße?

Kein „fröhliches“ Buch, nüchtern geschrieben, aber gut in manchen Denkansätzen.

:stern: :stern: :stern: /:stern:

Taschenbuch: 180 Seiten
Verlag: Suhrkamp; Auflage: 2., Aufl. (September 2002)
Sprache: Deutsch
ISBN: 3518399772

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tom
 

von Anzeige » 21.04.2007, 08:30

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