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Fry, Stephen - Geschichte machen




Fry, Stephen - Geschichte machen

Beitragvon marilu » 23.02.2009, 00:38

Nachdem mir im Januar Evelyn Waugh "sein" Oxford vorgestellt hat, bescherte mir Stephen Fry in seinem "Making history" (Originaltitel) einen Besuch in Cambridge und Princeton.

Michael Young steht kurz vor der Abgabe seiner Doktorarbeit, als er durch einen Zufall die Bekanntschaft von Leo Zuckermann macht - einem Professor am New Cavendish Laboratory. Das Thema von Michaels Arbeit - Hitlers Weg zur Macht - scheint eine große Anziehungskraft auf Leo auszustrahlen. Die beiden lernen sich allmählich kennen und als Michael herausfindet, dass Leo eine Maschine (TIM) entwickelt hat, mit der man in die Vergangenheit schauen kann, diskutieren sie eine faszinierende Idee: wie wäre es, das 20. Jahrhundert von Hitlers alles überschattender Präsenz zu befreien? Die Frage ist jedoch: wie lässt sich dies bewerkstelligen?
Als Michael durch Zufall darauf aufmerksam wird, dass seine Freundin eine Pille entwickelt hat, die Männer ein und für alle Mal unfruchtbar macht, ist ein Plan geschaffen, den die beiden schnellstmöglich in die Tat umsetzen...
Hiermit endet der erste Teil des Romans nach etwas mehr als einem Drittel.

Im zweiten Teil findet sich Michael in Princeton wieder - ohne Erinnerung an seine Vergangenheit, einem englischen Akzent und tierischem Kater. Er fühlt sich völlig verloren und je mehr Puzzlesteine er von seinem "amerikanischen" Leben einsammelt, desto klarer wird, dass sein momentanes Handeln von dem bisherigen Leben abweicht. Eine Verwirrung jagt die nächste und eine Lösung des Rätsels scheint nicht in Sicht. Doch die persönliche Veränderung wiegt seiner Meinung nach nicht schwer, denn scheinbar hat sein Eingriff in die Vergangenheit das gewünschte Resultat gehabt: Adolf Hitler wurde nie geboren, die NSDAP nie gegründet, Konzentrationslager nicht geplant und realisiert. Doch halt: er muss erfahren, dass die Geschichte sich nicht so leicht überlisten lässt und ein beseitigter Bösewicht nur ein Machtvakuum hinterlässt, das jemand anders mit noch mehr brutaler, eiskalter Politik füllt...
Unterstützt von seinem Kommilitonen Stephen Burns macht er sich auf die Suche nach "Leo Zuckermann" in dieser Welt nachdem er in die Fänge des Geheimdienstes geraten ist und erfährt so die Entwicklung des 20. Jahrhunderts in dieser Realität.


Stephen Fry schreibt mit "Geschichte machen" ein sich schnell entwickelndes Gedankeninstrument, das auf mehreren Ebenen spielt - einerseits Cambridge in den 90er Jahren, Rückblenden in die Jugend Adolf Hitlers und einen Ausblick in eine Parallelwelt. Statt im ersten Teil direkt zum Punkt zu kommen, verliert sich Fry teilweise in Koketterie, wenn er sich über Kleinigkeiten auslässt, die mit der Geschichte eigentlich nichts zu tun haben. Immer auf hohem Level und höchst unterhaltsam, aber nicht unbedingt notwendig für die Handlung. Das mag man oder nicht - mir hat es als Fry'scher Spleen gut gefallen.

Erwähnenswert finde ich die Gestaltung des Romans - ich kann mich hierbei nur auf die englische Ausgabe beziehen, die ich gelesen habe, aber ich gehe davon aus, dass es auch im deutschen übernommen wurde:
Die Kapitelüberschriften im 1. Teil beginnen alle mit "Making..." (z. B. Making friends, Making amends etc) - die im 2. Teil enden in "... History" (z.B. Local History, Modern History etc.) - beide Teile enden in "Making history". Aber dies ist nicht die einzige Eigenheit - auch die Übergänge der einzelnen Kapitel sind miteinander verbunden - der Inhalt des letzten Absatzes (fast) jeden Kapitels wird im ersten Absatz des Folgekapitels übernommen, was mitunter zu irritierenden oder amüsanten Assoziationen führt. Ebenso wie mit dem Romanaufbau spielt Fry auch mit der Sprache und beschränkt sich nicht nur auf englisches Vokabular, sondern setzt erstaunlich viel Deutsch ein, wenn er bestimmte Punkte unterstreichen möchte. Und das ganze auch noch korrekt!
Last but not least: besonders handlungsintensive Stellen werden nicht in Prosa präsentiert, sondern in Form eines Drehbuchs, was das Tempo nochmal erhöht.

Fry wählt den Weg, einen fiktiven Ersatz für Hitler zu schaffen, der vom Rassenhass und persönlichem Ehrgeiz genauso durchdrungen ist wie Adolf Hitler, aber zusätzlich noch dem Bild eines Ariers entsprach und vor Charme sprühte: Rudolf Gloder. Ein echter "Gewinnertyp", der ein Szenario in Gang setzt, bei dem einem vor Fassungslosigkeit und Grauen nur der Mund offen stehen bleiben kann...

Volle Punktzahl kann ich diesem Roman nicht geben, weil das Thema an manchen Stellen - gerade im zweiten Teil - zu flapsig angegangen wurde, die technische Umsetzung des Eingriffs in die Weltgeschichte nichtmal ansatzweise erklärt wurde und mich das Ende nicht völlig überzeugte.
Dennoch war es ein interessantes Buch, das mich sehr gefesselt hat und nicht losließ, bis es ausgelesen war.

:stern: :stern: :stern: / :stern: :stern: :stern: :stern:

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