Im Zug nach Petersburg sitzt er mit dem deutschen Geschäftsmann Hofmann im gleichen Abteil, sie unterhalten sich über Literatur und schließlich überlässt Hofmann ihm seine Mappe mit Kurzgeschichten, um sie zu veröffentlichen - Geschichten über Petersburg und über das Volk mit der berühmt-russischen Seele, die uns nach der Lektüre wohl immer noch fremd bleiben wird. Es sind also Hofmanns Aufzeichnungen, nicht von ungefähr gleich tönend mit E.T.A. Hoffmann. Die vorliegenden Erzählungen sind genauso skurril, komisch, gespenstisch, grausam, grotesk und surreal wie jene seines Namensvetters.
„Beim Schreiben, sagt er, habe er sich mehr und mehr der Neigung hingegeben, die Erfindung anstelle der Recherche zu setzen. Denn für ihn, so Hofmann, sei etwas Ausgedachtes nicht weniger wirklich als ein Unfall auf der Straße.“
Ab welchen Punkt hören diese Geschichten auf, real zu sein? Die Grenze wird ausgespart, die Szenen werden aus weiter Entfernung fotografiert, sodass ein scharfer Blick benötigt wird, um Umrisse zu erkennen. Die Einwohner Petersburg kurz nach der Wende, nach Öffnung der Grenzen, für manche eine Gefahr, für andere eine neue Chance, Geschichten aus Sicht eines Deutschen.
Politisch sind die Aufzeichnungen, für den Russen spielt Geld keine Rolle, er will dem Land durch seine Arbeit dienen. Trinkgelder werden verworfen, Künstler verschenken ihre Werke anstatt sie zu verkaufen oder sehen im hereinbrechenden Kapitalismus des Westens das Ende ihrer Existenz.
Religiös sind die Aufzeichnungen, Frauen werden bezahlt, damit sie die Männer ans Grab der Mutter folgen und der Verstorbenen weismachen können, sie hätten eine Familie gegründet. Eine Pilgerschar im Museum, um der Erscheinung Marias auf einem Gemälde zu huldigen. Ein deutscher Tourist, der durch ein Almosen von der Bevölkerung überfallen wird, dem die Kleider vom Leib gerissen werden, um später seinen von Adressen und Telefonnummern übersäten Körper vom Platz zu schleifen.
Brutal sind die Aufzeichnungen, von der Mafia, von Menschenfressern und einer kinoreifen Schießerei mitten im „Wilden Osten“
So unterschiedlich die Geschichten sind, so unterschiedlich sind auch die Stilarten des Autors. In ihm steckt sehr viel Potenzial, unübersehbar seine Kunstfertigkeit. So werden nichtige Tätigkeiten einer Figur mit dem Monolog einer zweiten Figur geschickt in einem Zusammenhang gebracht. Zum Beispiel die beiden Schachspieler, die im Dialog über unterschiedliche Dinge reden, aber doch auf den gleichen Nenner kommen. Oder der Journalist, der beim Gespräch mit einer rebellierenden Kommunistin zwischendurch ein Topf Wasser nach dem anderen aufs Feuer setzt, um seine Wanne zu füllen, Zum Schluss bemerkt er:
„Es war noch keine Stunde vergangen, als ich beim Anblick der halb gefüllten Wanne plötzlich begriff: Meine aussichtslose, vermessene Rebellion würde gelingen! Heute noch sollte ich baden! Diese Gewissheit kam so unerwartet, dass ich, überwältigt von ihr, augenblicklich jene Erregung verspürte, mit der ich bald ins Wasser tauchen sollte, wo sich, geborgen von Wärme, alle Plackerei in Glück wandeln würde.“
Über den Geschmack dieser Aufzeichnungen lässt sich streiten, manche waren genial, andere haben mich ratlos zurückgelassen. Die Begabung des Autors darf man jedoch nicht außer Acht lassen, und weil dieses Buch sein Debüt darstellt, hoffe ich auf eine Steigerung bzw. eine ausgereifte Bearbeitung seiner vorhandenen Qualitäten in den nächsten Werken. Ein Autor, den man im Auge behalten sollte.
„Wäre ich nicht zu der Überzeugung gelangt, dass die hier versammelten Aufzeichnungen über einen bloßen Unterhaltungswert hinausgingen und die Möglichkeit in sich trügen, die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben, hätte ich von dieser Aufgabe Abstand genommen.“
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Gruß,
chip