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Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod




Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod

Beitragvon mombour » 03.10.2010, 10:06

Hallo,

Peter Noll: Diktate über Sterben & Tod

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Dem Schweizer Juristen Peter Noll, Freund von Dürrenmatt und Frisch, wird Blasenkrebs diagnostiziert. In einem Tagebuch vom 28. Dezember 1981 - 30. September 1982 lesen wir seine „Diktate über Sterben & Tod“, doch sie enthalten viel mehr, politische Ansichten, philosophische und religiöse Überlegungen, wir erfahren, dass Trotzki die Atomenergie vorausgesagt hat und Johann Peter Hebel ein Gedicht über die Vergänglichkeit geschrieben hat, darin wir lesen können, wie Basel nach einem Atomkrieg aussieht. Goethe habe im Zauberlehrling die Unbeherrschbarkeit der Technologie vorausgesehen. Es wandelt sich die Aussagekraft von Gedichten im Wandel der Zeiten. Jedes Jahrhundert hat seinen eigenen Blick.

Wie sieht es nun mit dem Blick auf den Tod aus? Weiterleben um jeden Preis? Peter Noll steht die Menschenwürde an erster Stelle.

Peter Noll hat geschrieben:Ich will nicht in die chirurgisch-urologisch-radiologische Maschine hineinkommen, weil ich dann Stück um Stück meiner Freiheit verliere.


Also keine Operation. Sein Tod solle zelebriert werden, die Gemeinde solle sich mit dem Tod auseinandersetzen. „Nichts soll vertuscht, nichts verharmlost werden, auch den Ausweg der Verdrängung möchte ich versperren.“ Peter Noll legt den Finger in die Wunde christlicher Gläubigkeit, die meist zu verhöhnender Gelegenheitsgläubigkeit verschrumpft ist.. „Wir alle kommen ja nur noch zu Beerdigungen in einer Kirche“, ( man könne hier ergänzen, evtl. noch zu Trauungen), so wird Christentum nicht gelebt, sondern nur gestorben, im letzten Atemzug noch überlegt, vielleicht gibt es doch ein ewiges Leben oder die schwierigste Christenfrage „Was ist Auferstehung?“ - Jesus ist physisch auferstanden, es gebe doch Zeitzeugen, trotzdem, ich weiß, mein Körper verwest doch – hier könnt ich endlos weiterspinnen, aber genau das meint doch Peter Noll. Wir gehen in die Kirche, hören eine Predigt, die schön ist, und am Montag wird wieder gesündigt. Die Praxis des Christentums ist unausgegoren.

Peter Noll hat geschrieben:Die Exaktheit der Diagnose hat, verglichen mit der Ungewissheit des therapeutischen Erfolges, etwas Absurdes....Der Tumor hat die Blasenwand völlig durchwachsen, und so wie man Tumore eben kennt, will er weiterwachsen.


Noll liest „Mars“ von Fritz Zorn, über einen jungen Mann, der über seine Krebserkrankung schreibt, mit 32 Jahren stirbt. Das Buch ist genau das Gegenteil von dem uns vorliegenden Tagebuch. Zorn, hier passt der Name, schreibt voll Hass und Zorn, offenbar auch über seine bisherige Vergangenheit völlig verbittert. Dieses Buch zu lesen, wäre für mich wahrscheinlich schrecklich. Es ist erstaunlich, wie es Peter Noll gelingt, ein erbauliches Tagebuch zu Papier bringen. Er hat sehr viel zu erzählen, und wenn er über Schmerzen schreibt, dann labt er sich nicht darin, wie entsetzlich das ist, im Gegenteil, er schreibt ziemlich nüchtern:
Peter Noll hat geschrieben:Meine Schmerzen sind jetzt da, stumpf und schwer, aber ich kann nichts über sie aussagen, weil ich mich auf keine fremde gleichartige Erfahrung berufen kann.


Im Gegensatz zum Tier kann unser Gehirn an den „Tod“ und an „Gott“ denken. Trotz dieser Besonderheit werden diese Gedanken heutzutage gerne verdrängt. Wir sind den Schimpansen ähnlich, lesen wir, schauen uns den toten Verwandten kurz an , befühlen ihn und wenden uns ab. Für Freunde wäre es einfacher, ein Krebspatient liege im Krankenhaus, schon abgeschoben, vielleicht verabschiede man sich noch, das war's. So beobachtete Peter Noll einen Schwund an Freundeskontakten. Ich denke mir, für einen Kranken ist es doch immer schön, wenn er Kontakte pflegen kann, Freunde unbeschwert auf ihn zu kommen können. Aber es liegt eben in der Luft, Menschen meiden die Berührung mit dem Tod. Ein Krebskranker steht schon mit einem Bein außerhalb unseres Daseins, wohin niemand möchte. „Noch totaler verdrängt ist die Gottesvorstellung“, sagt Noll, auch in meiner Umgebung, so habe ich den Eindruck, laufen mehr Agnostiker und Atheisten herum, obwohl bei religiös-fundamentalistischen o.ä. Richtungen heute eher ein Zulauf zu beklagen ist (Nolls Tagebuch erschien posthum 1984). Noll hat die Begabung sehr feine kompakte Zitate an den Mann zubringen, die sich für mehr noch als nur für Kalenderblätter eignen. Drei Beispiele:
Peter Noll hat geschrieben:Das Gehirn denkt Gott. Das heisst nicht, dass es ihn geben muss, das heisst aber zwingend, dass die Frage nach ihm unabweislich und dass der empirische Positivismus eine lahme Ente ist.

Peter Noll hat geschrieben:Die Bedürfnislosigkeit macht freier als die Erfüllung aller Bedürfnisse.


Peter Noll hat geschrieben:Der Todkranke, der sich der medizinischen Apparatur übergeben hat, ist wirklich hilflos, weil die Hilfe, die er bekommt, kalt ist.


Überrascht war ich, als Peter Noll über Hoimar von Ditfurth's Buch „Wir sind nicht nur von dieser Welt“ erzählt. Das Buch vermittelt „die Idee,“ so Noll, „die Evolution der Welt sei die noch im Gange befindliche Schöpfung und ihr Ende münde ins Jenseits, wo der Geist herrsche, ist imposant und plausibel." Das ist famos und erinnert mich an Ken Wilber „Halbzeit der Evolution“. Von Hoimar von Ditfuth habe ich „Am Anfang war der Wasserstoff“ gelesen und wusste gar nicht, dass der Autor spirituell veranlagt ist. Das Buch strahlt von Optimismus, Peter Noll gibt hier einen leichten Dämpfer, denn er weist darauf hin, der Autor verschweige schamhaft, „dass das Gesetz der Evolution, jedenfalls auf dieser Erde zur Vernichtung führen wird.“ Ich denke, Noll hat das Wettrüsten der Atommächte im Hinterkopf. Nun, unseren blauen Planeten gibt es heute noch.

Epilog

Was bringt es, sich zu verewigen, sei es in Weltliteratur, Musikgeschichte oder Kunstgeschichte. Falls man „nach dem Tode in irgendeiner Form als dieselbe Persönlichkeit weiterlebt“, kann dieses doch egal sein. Der Drang nach Verewigung, so Noll, setze voraus, dass man an eine Existenz nach dem Tode nicht glaube. Der Autor schließt in dieser Hinsicht allerdings die magischen Vorstellungen der Alten Ägypter aus, für die das Jenseits nur ein verlängerter Arm des Diesseits gewesen war. Die „Diktate über Sterben & Tod“ sollen nicht von Ewigkeitsvorstellungen geleitet sein, nur davon, der Leser möge „sich mit Sterben, Tod und Jenseitsvorstellungen schon im Leben auseinandersetzen“. Die Bewusstheit, das Leben ist begrenzt, hat für den Autoren dieser Diktate einige Vorteile verschafft. Die Sinnoasen suche er sorgfältiger aus, manches werde zur Sinnoase, wofür er früher achtlos vorbeigegangen sei. Unwichtiges wird beiseite gelassen, er konzentriert sich auf das Wesentliche, auf das, was wirklich noch wichtig ist. Ich denke, Menschen, die sich in ähnlicher Situation befinden, geht es ähnlich wie Herrn Noll. Unser aller Leben ist begrenzt. Wenn wir das Bewusstsein haben, der nächste Atemzug könne unser letzter sein, dann wären wir Menschen wirklich in der Gegenwart angekommen und würden uns keine Gedanken oder Sorgen um den nächsten Tag machen. Vor der Lektüre habe ich nicht wissen können, welche Freude mir dieses Buch schenken würde.

Liebe Grüße
mombour

PS: Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch - hierin schreibt er über den Tod seines Freundes.
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von Anzeige » 03.10.2010, 10:06

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Re: Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod

Beitragvon Krümel » 03.10.2010, 10:41

mombour hat geschrieben: Wir sind den Schimpansen ähnlich, lesen wir, schauen uns den toten Verwandten kurz an , befühlen ihn und wenden uns ab. Für Freunde wäre es einfacher, ein Krebspatient liege im Krankenhaus, schon abgeschoben, vielleicht verabschiede man sich noch, das war's. So beobachtete Peter Noll einen Schwund an Freundeskontakten. Ich denke mir, für einen Kranken ist es doch immer schön, wenn er Kontakte pflegen kann, Freunde unbeschwert auf ihn zu kommen können. Aber es liegt eben in der Luft, Menschen meiden die Berührung mit dem Tod. Ein Krebskranker steht schon mit einem Bein außerhalb unseres Daseins, wohin niemand möchte.


Das hört sich sehr ähnlich an wie das was meine "bunten Pillen" meinten, nämlich abgeschoben, aus den Augen aus dem Sinn, überhaupt hört sich das Buch sehr interessant an, ABER nicht zu dieser Zeit :wink: Später mal, ich habe es auf meinem Wunschzettel aufgenommen :thumleft:
BildLiebe Grüße,
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Re: Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod

Beitragvon Pippilotta » 03.10.2010, 15:21

Hört sich nach einem sehr, sehr interessanten Buch und die Ideen, die Du hier schon beschrieben hast, beschreiben ein außergewöhnliches Buch! Werde danach Ausschau halten, danke für den Tipp!
Herzliche Grüße
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Re: Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod

Beitragvon mombour » 04.10.2010, 08:07

Hallo,

Über euer Interesse freue ich mich. :wink1:

Liebe Grüße
mombour
Zuletzt geändert von mombour am 04.10.2010, 20:22, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Noll, Peter - Diktate über Sterben & Tod

Beitragvon Pippilotta » 04.10.2010, 13:28

habs übrigens schon via booklooker um sehr wenig Geld geordert! Ob ich es gleich lesen werde, weiß ich noch nicht, weil ich ja doch noch ein bisschen Abstand brauche ....
Herzliche Grüße
Pippilotta


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