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Solowjow, Wladimir, Klepikowa, Elena: Der Präsident




Solowjow, Wladimir, Klepikowa, Elena: Der Präsident

Beitragvon mombour » 23.11.2011, 11:33

Wladimir Solowjow/Elena Klepikowa: Der Präsident - Boris Jelzin, eine politische Biographie

(es gibt kein offizielles Amazon-Cover-Foto)

Mein Anliegen , eine Biografie über Boris jelzin zu lesen, lag in erster Linie darin, ich wollte wissen, wie das mit den Tschetschenien-Kriegen begonnen hatte, die dann von Wladimir Putin weitergeführt wurden. Diese Biografie, die in erster Linie eine politische Biografie ist, hebt hervor, dass Boris Jelzin völlig anders war, als seine Vorgänger. Schon seine Taufe war ungewöhnlich. Der Pope war betrunken und tauchte Boris in einem mit Wasser gefüllten Zuber, vergaß aber , ihn wieder herauszunehmen. In ihrer Geistesgegenwärtigkeit holte die Mutter den kleinen Boris, bevor er ertrinken konnte, aus dem Wasser. Durch diese Lebensrettung konnte Boris Jelzin später zum ernstzunehmenden Rivalen Gorbatschows werden und das russische Volk bekam seinen Helden und Verteidiger.

Gorbatschow holte ihn nach Moskau. Vom 24.12. 1985 bis zum 13. November 1987 war er Erster Parteisekretär im Kreml. Mit seinen Reformen verärgerte er Gorbatschow. Jelzin war ganz anders, als die Ersten Parteisekretäre vor ihm. Er verzog sich nicht hinter die Mauern des Kremls, sondern benutzte öffentliche Verkehrsmittel, tauchte unerwartet in Fabriken und Betrieben auf, gab Pressekonferenzen, beantwortete geduldig alle Fragen. Jelzin gefiel „sein Image als Einfaltspinsel vom Lande“ (Seite 39). Im Ural ist er geboren, in Swerdlowsk. Populismus wurde ihm vorgeworfen, weil er sich offenbar die Beliebtheit des Volkes auf der Straße holte. In den Warteschlangen vor den Geschäften stand er geduldig wie andere Moskauer auch. Moskau war damals „ein Augiasstall der Korruption, des Diebstahls und der Vetternwirtschaft (Seite 44) und „Jelzin, groß, stämmig, mit festem Schritt und physischem Durchhaltevermögen, mit unermüdlicher Energie und leicht aufbrausend,“, sollte den Augiasstall ausmisten. Er wollte die Probleme Moskaus lösen. Die problematische Wohnsituation vieler Moskauer, z.B. hausten 28000 Bürger in Bretterbuden, das Energieministerium war in der Kirche untergebracht, in der Puschkin getraut worden war. Diese Behörde sollte nun verlegt werden, eine 60 km lange U-Bahnstrecke sollte entstehen usw. Seine Ziele waren sehr groß, aber in den achtzehn Monaten seiner Amtszeit konnte er all das nicht schaffen. Die Liste seiner Vorhaben war sehr lang. Am Ende war er ein Ausgestoßener.

Jelzin war als Moskauer Parteichef Mitglied des Politbüros, allerdings nur als Kandidat ohne Stimmrecht. Hätte er seine Beliebtheit nicht verspielt, wäre er Vollmitglied mit allen Sonderprivilegien geworden. Diese Privilegien wollte er allerdings abschaffen, z.B die gepanzerten SIL-Limousinen, die vom Volk als „Särge“ bezeichnet wurden. Wenn so ein Sarg an eine Ampel kam, wurde sie auf grün geschaltet. Das Landei Jelzin konnte sich mit so etwas nicht anfreunden, er wollte auch die Datscha nicht, die Gorbatschow ihm überlassen wollte. Er lehnte alle Sonderrechte ab.
Solowjow/Klepikowa hat geschrieben:„Er war der einzige russische Herrscher, der es bis auf die Spitze des Eisberges geschafft hatte und dann wieder hinunter ins Tal abgestiegen war, ganz aus freien Stücken. Das war sein größter Bruch mit der alten Kremltradition.“
(Seite 55)

Usus war, man geht erst wenn man stirbt oder ausgestoßen wurde. Mit Jelzins Kampf gegen Privilegien wuchs das Missvergnügen in hohen Parteikreisen. Er wurde zum Rebell gegen Gorbatschow. Die Rivalität zwischen ihnen hatte persönliche und politische Gründe und begann, als Gorbatschow die Kontrolle seiner eigenen Revolution verlor. Er speiste seinem Kopf mit der fixen Idee, Jelzin sei am allen Schuld, was immer auch geschah. Außerdem drohte Gorbatschow an ihm den Rang an Beliebtheit beim Volk zu verlieren.

Boris Jelzin war der erste und ich denke, bisher der einzigste, der gegen die Kremlbonzen rebellierte. Am 21. Oktober 1987 hielt Jelzin eine vierminütige Rede, die nicht nur für ihn, sondern für das ganze Land Folgen hatte. Es kursierten diverse Gerüchte, was Jelzin an diesem Morgen wohl gesagt haben mag. Erst achtzehn Monate später wurde diese Rede veröffentlicht. Wir bekommen sie in dieser Biografie auch nicht gleich aufgetischt, sondern erfahren erst die Reaktion des Kreml-Areopags (Im Kreml wird alles protokolliert, die Quellen werden als Zitat aufgetischt). Das ist von den Autoren dieser Biografie bewusst so angelegt. Lasse man den Leser doch etwas warten, die Weltöffentlichkeit musste damals auch warten, bis sie die Rede zu lesen bekam. Ein herrlicher Trick. Immerhin ist ein Auszug dieser Rede abgedruckt, natürlich hätte ich diese gerne vollständig gelesen. Jelzin kritisierte u.a. die Bummelei in Sachen der Umsetzung der Perestroika. Das war natürlich ein Angriff auf Gorbatschow. Die Reformen wurden zu lahm umgesetzt, sodass auch die Bevölkerung den Glauben daran zu verlieren drohe. Die erste wichtige Konsequenz, die ich aus dieser Biographie zu ziehen habe, ist die, dass, wenn wir an die Perestroika denken, neben Gorbatschow auch Jelzin im Auge behalten müssen. Damals, um 1990, ich kann mich noch daran erinnern, dass nur Gorbatschow im Mitelpunkt des Weltintereses war.. Gorbatschow bekam auch den Friedensnobelpreis und Boris Jelzin wurde der erste postsowjetische Präsident Russlands. Ein Wunder, denn 1988 wurde er erst einmal seines Amtes im Kreml enthoben. Man wollte ihn loswerden, doch er kam zurück, 1989 in den Kongress der Volksdepurtierten. Was für eine mutige, an sich markante unübersehbare Persönlichkeit.

In unserer Biographie folgt ein siebzigseitiges Kapitel, in dem die unterschiedlichen Charaktere Jelzin/ Gorbatschow dargestellt werden. Zeitweise hatte ich den Eindruck ich lese eine Doppelbiografie, aber der Schwerpunkt wendet sich schließlich doch auf Boris Jelzin. Beide haben den gleichen Jahrgang und kommen vom Lande. An den beiden hätte Plutarch seine Freude gehabt. Der Verdienst dieser Biographie liegt auch darin, dass die Autoren den westlichen Leser vor Augen führt, dass Gorbatschow in den Jahren des Übergangs, 1990/91 von den Moskauer Bürgern sehr kritisch gesehen wurde. Boris Jelzin war viel beliebter. Das hatte folgenden Grund:

Es ging die Angst herum, eine Diktatur könne sich festigen. Während die künftigen baltischen Staaten schon eine Richtung zur Demokratie einschlugen, indem die Zentralisierung einer Partei aufgegeben wurde, war es in Moskau umgekehrt der Fall. In der Umsetzung der Demokratie war Gorbatschow viel zu zögerlich, und man konnte sogar einen Rückschritt zur Festigung der Diktatur beobachten. Im Herbst 1990 baute Gorbatschow seine Macht mit zusätzlichen Vollmachten im Kreml aus. Aus Protest trat Eduard Schewardnadse als Außenminister zurück. Er sagte aus:

Schewardnadse hat geschrieben:„Eine Reform geht zum Teufel! Eine Diktatur wird kommen. Ich erkläre das mit voller Überzeugung. Niemand weiß, was für eine Diktatur das sein wird, wer der Diktator ist und wie sein Regime aussieht.“
(Seite 288).

Einen Monat vorher kritisierte Schewardnadse Gorbatschow intern wegen des Massakers, welches russische Panzer in der litauischen Hauptstadt angerichtet hatten. Gorbatschow gab sich daraufhin unschuldig. Dazu sei von mir bemerkt, Gorbatschow bekam 1990 den Friedensnobelpreis für die Beendigung des Kalten Krieges und für seinen Beitrag für die Deutsche Einheit, nicht aber für die Zustände in der Sowjetunion. Am 19. August gab es gegen Gorbatschow den Putsch, der damals durch die Weltpresse ging.

Die Autoren dieser Biografie erweisen sich als detaillierte Kenner sowjetischer Verhältnisse. Sie selbst sind aus der Sowjetunion emigriert, und unternahmen in der Zeit zwischen Frühling 1990 und Herbst 1991 drei Reisen in die Sowjetunion, um dieses Buch schreiben zu können. In den USA hatten sie Kontakte zu Moskauer Freunden. Aufgrund der politischen Ereignisse im August 1991, mussten die Autoren, deren Biographie schon zur Hälfte geschrieben war, ihre Arbeit unterbrechen und feilten an der Einleitung dieser fantastischen Biographie. Den Autoren gelingt es, tief hinter die Kremlmauern zu schauen, was für mich etwas ganz besonderes war, denn noch niemals war ich so tief in der Sowjetunion drin, wie in diesem hervorragendem Werk. Gegen Ende des Buches, die Autoren standendamals unter Zeitdruck, denn der Termin zur Veröffentlichung des Buches kam immer näher, geben die Autoren eine ausführliche Analyse des Putsches und deren verworrende Hintergründe.
Zu Beginn dieser Buchbesprechung habe ich über meine Motivation gesprochen, eine Jelzin-Biographie zu lesen, um zu erfahren, warum Boris Jelzin mit den Tschetschenien-Kriegen begonnen hat. Diese Antwort muss mir ein anderes Buch geben, denn diese Biografie schließt mit dem Jahre 1991. Über dem letzten Kapitel lesen wir ein Zitat des römischen Historikers Livius, was ohne weiteres auf Jelzin ebenso zutrifft wie auf Hannibal:

„Hannibal, du verstehst zu siegen, aber wirst du deinen Sieg auch nutzen können?“

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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von Anzeige » 23.11.2011, 11:33

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Re: Solowjow, Wladimir, Klepikowa, Elena: Der Präsident

Beitragvon Karthause » 23.11.2011, 12:37

Danke für diese aussagekräftige Rezi. Die Bio kommt mal auf meinen Merkzettel. Wenn du an Literatur zum Tschetschenien-Krieg interessiert bist, kann ich dir "Die Farbe des Krieges" von Arkadi Babtschenko empfehlen. Ein Roman, aber der Autor war selbst in diesem Krieg und dem entsprechend realitätsnah und heftig sind seine Schilderung. Man muss als Leser hart im Nehmen sein.
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Re: Solowjow, Wladimir, Klepikowa, Elena: Der Präsident

Beitragvon mombour » 23.11.2011, 13:49

Danke Karthause, eine sehr gute Empfehlung.
In diesem Zusammenhang sind auch die Bücher der preisgekrönten Journalistin Anna Politkowskaja zu nennen. Sie schrieb über den Krieg 1999: Tschetschenien: Die Wahrheit über den Krieg

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