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Willms, Johannes - Stendhal




Willms, Johannes - Stendhal

Beitragvon mombour » 20.08.2011, 16:34

Johannes Willms: Stendhal

Ein Vorgeschmack auf unsere Challenge :mrgreen:

Bild

Knapp über die Hälfte der Biografie hinausgekommen mausert sich diese Biografie zu einem Zeugnis eines Menschen, der von einer Frau zur nächsten geht, ähnlich wie Fabrizio in der Kartause. In der ersten Hälfte der Biografie sich noch nicht abzeichnet, dass Stendhal ein großer Schriftsteller werden wird, er nur ein Frauenjäger, ein Mensch, dem sein übermäßiger Geschlechtstrieb eigentlich schon zur Last geworden sein muss, der seinen Trieb sofort befriedigen muss, sich gleich verlieben muss, wenn ihm eine schöne Frau unter die Augen kommt, ich mich schon ernsthaft fragen muss, ob das nicht einfach nur Sexsucht ist. Es ist wahrlich nicht übertrieben, wenn ich sage, auf (fast) jeder Buchseite gehe es um Frauen in Stendhals Leben. Korrektur: Nach der Lektüre wird es dem Leser so erscheinen, als ob....

Unter anderem in den Œuvres intimes, seinen Tagebüchern, schrieb Stendhal über seine Frauengeschichten. Was Stendhal dort loslässt geht teilweise an jugendfrei vorbei. Was mir tatsächlich in den Kopf schoss war, Stendhal hätte ein gehobener pornographischer Schriftsteller werden können. Was soll ein Biograf wie Johannes Willms schon machen, wenn so ein Tagebuch (offensichtlich) voll von Liebeleien ist. Er schreibt darüber, natürlich, und was Willms gut hinbekommen hat, ist, Stendhals Psyche in Bezug auf den Eros zu durchleuchten. Das ist eine wesentliche Leistung dieser Biografie

Ein wenig pausiert das Frauenthema, wenn Stendhal mit Napoleon gen Russland zieht (logisch). Stendhal ist ein Beispiel dafür, wie ein Mann vom Geschlechtstrieb geknebelt werden kann, seine große Liebe aber niemals finden wird. Stendhal war niemals verheiratet. Eine Frau war erobert, und schon verlor er wieder Interesse. Fabrizio erging es auch so. Nur eine Frau liebte er über Jahre hinweg: Victorine Mounier (na,ja, in Mailand gab es auch eine langjährige unerfüllte Liebe, davon später). Sie zeigte ihm nur die kalte Schulter, er bekam sie nie. Sie war Stendhals Dulcinea, die ewige Liebe, der er nachträumte, die unerreichbar blieb.

Stendhal hat geschrieben:Ich habe sie sehr geliebt, auch wenn ich ihr nur siebenmal in meinem Leben begegnet bin. Alle anderen Leidenschaften waren nur ein Wiederschein von dieser.
(Correspondance générale I,60; in Willms Seite 60/61)

„Es ist“, so formuliert Johannes Willms treffend

Johannes Willms hat geschrieben:völlig gleichgültig, dass Victorine vermutlich nicht entfernt jenem Idealbild entsprach, das er sich machte. Sie diente ihm wie andere Frauen lediglich als Projektionsfläche, als beliebiges Gefäß seiner Träume von vollkommener Liebe, von wunschlosem Glück. Stendhals enttäuschte, nicht erhörte Passion für Victorine Mounier liefert das Grundmuster für das Leiden an der Liebe, das seinem Leben den eigentümlichen Sinn geben sollte.
(Willms, Seite 68)

Stendhal war ein Träumer, zumindest in seinen jungen Jahren. Er verschlang viele Bücher, auch solche, die der Jugend nicht zugänglich sein sollten und erlag dem Wahn, die Literatur mit der Realität zu verwechseln. Als er erstmals in Paris war, glaubte er allen Ernstes, er könne die Pariser Szene „als ein Valmont aus den >Liaisions dangereuses<...betreten." (Willms, Seite 40)

Stendhal hat geschrieben:Ich kenne die Menschen nur aus den Büchern und es gibt Leidenschaften, von denen ich nirgendwo sonst Kenntnis erhalten habe.
(Pensées, Filosofia nova, in Willms, Seite 59; )

In den Œuvres intimes I 180, bekennt Stendhal, er habe, bevor er Victorine nach drei Jahren erstmals wiedersah, genau vorgestellt wie seine Erwartungen von Glück sein werden, die er sich während der drei Jahre ausgemalt hatte, und als er sie sah, realisierten sich seine Erwartungen. Johannes Willms schreibt (Seite 65/67), er sei noch von dem ihn verehrten Rosseau beeinflusst gewesen, der in Les Confessiones seine Begegnung mit Madame d' Houdetot ähnlich geschildert hat.

Als ich las, Stendhal habe in Romanen das reale Leben erblicken wollen, musste ich daran denken, wie der Franzose aus Renaissance-Geschichten seinen letzten großen Roman gestaltete. Er schrieb Die Kartause von Parma mit einem Fuß in der Renaissance weilend, obwohl die Handlung des Romans zu Anfang des 19. Jahrhunderts zu setzen ist. Hier mag sich Stendhals Träumerei in wunderbarer Weise in einem Roman gespiegelt haben, oder die Romantik. Als im Jahre 1800 Napoleon den St. Bernhard Pass in Richtung Oberitalien überschritt, war Stendhal als Hilfsarbeiter im Truppenverwaltungsdienst dabei und „träumte sich wieder in die Rolle eines strahlenden Helden von Ariost“(Willms, Seite 45), genauso wie es Fabrizio in der Kartause bei Waterloo getan hatte. In Italien lernte Stendhal die Musik Cimarosas kennen und lieben. Julien Sorel bricht im Roman „Rot und Schwarz“ in Tränen aus, als er eine Arie Cimarosas vernimmt, und in der Kartause verliebt sich Fabrizio bei Cimarosas Klängen in Clelia (vgl. Willms, Seite 48) Es macht mir Spaß zu entdecken, was die Romane über Stendhal selbst erzählen.

Stendhal war sehr ehrgeizig und wollte unter Napoleon zum Kriegskommissar aufsteigen, war aber auf seiner Reise nach Deutschland im Jahre 1806 dem Kriegskommissar nur als Stellvertreter zugeteilt. Die Bürokratie langweilte ihm schließlich dann doch, er wollte in die Schlacht. Stendhal schien aber nicht wirklich der Typ eines heldenhaften Soldaten zu sein, waren doch diese Ziele dadurch vergällt worden, weil er den Auftrag bekam, Pferde-und andere Tierkadaver von den Straßen zu befreien. Auf einer Reise durch Süddeutschland sah er grausame Restbestände des Krieges: Tierkadaver, Uniformstücke und Helme bei Landshut. Der Anblick übel zugerichteter Soldatenleichen gaben ihm den Rest. In Wien ging es ihm besser, er begegnete wieder schönen Frauen (vgl. Wilms Seite 102/103). Den Russlandfeldzug 1812 hatte er allerdings noch vor sich.

Stendhals große Liebe war selbstverständlich Italien, vielleicht letzendlich doch besser so. Was sollte er als Kriegsminister? Ich frage mich, ob die Liebe zu Italien ihm diesen Ehrgeiz doch genommen hat, als Beamter des Krieges Schlachten zu verwalten (was immer so einer mit so einem Job auch tun muss). Die Œuvres intimes legen auch Zeugnis von seiner großen Liebe zu Italien ab. Italien bedeutete ihm alles, es habe seinen Charakter geprägt, er verbrachte dort seine süßen Jugendjahre,usw schrieb er (vgl. Willms, Seite 134) und wird dort etwa ein Drittel seines Lebens verbringen. Was für ein Gegensatz zum Krieg, dem er sich mal mit Leib und Seele verschreiben wollte.

Aus dem Russlandfeldzug schrieb er:

Stendhal hat geschrieben:Kannst du dir vorstellen (….), dass ich kurz davor bin, loszuheulen? In diesem Ozean der Barberei ist kein Ton zu vernehmen, der mir zum Herzen klingt. Alles hier erscheint der Physis wie der Moral als grobschlächtig und stinkend.
((Correspondance générale II, 352, Willms, Seite 149)

Bleibe er lieber in Italien, wo sein Herz erklingt.

Nach der Ära Napoleons I. geht es darum, wie Stendhal nach Bonaparte finanziell überleben kann, es folgen einige unerfüllte Liebesbeziehungen, die Stendhal in seine schlimmste Krise stürzten: Selbstmordgedanken, vier Jahre Keuschheit. Es erfolgt auch der Aufstieg zum angesehenen Schriftsteller, mit dem Schreiben er so manches Liebesleid überwinden konnte. Weiterhin die unerfüllte Liebe zur Mailänderin Métilde Dembowski. Die Folgen waren besonders tragisch. Dieses war wirklich Liebe, die völlig unerwartet in Stendhals Leben fiel, keine Liebelei, keine Abenteuerei wie in seinen jungen Jahren, Métildes Abweisung Stendhal in eine bisher nie dagewesene Sinnkrise führte. Vielleicht sah Stendhal in Métilde seine letzte Chance, die große Liebe zu begegnen. Métilde, damals 28 Jahr alt, hatte zwei Kinder und war geschieden. Einmal reiste er ihr durch mehrere italienische Städte hinterher, nur um sie zu sehen. Doch das hatte furchtbare Folgen. Stendhal wurde, Johannes Willms vermutet, von Métildes ehemaligem Gatten, dem General Dembowski, denunziert. Er wurde verdächtigt, ein Spion der französischen Regierung zu sein, ein gefährlicher Liberaler. Sogar Fürst Metternich soll seine Hand im Spiel gehabt haben, sodass er Mailand für immer verlassen musste, dem Metternich Jahre später noch seinen Tod wünschte. Noch zehn Jahre später, klagte er über den Verlust, Mailand den Rücken gekehrt haben zu müssen. Als Stendhal aus Mailand floh, er ging schon auf die vierzig zu, hatte er, so darf ich wohl sagen, sein Leben fast verloren. „Mehr und mehr versank er in einer Depression die ihn, bezeichnend für sein Empfinden des Versagens, davon abhielt, frühere Kontakte in Paris neu zu knüpfen“, so Johannes Willms auf Seite 191.

Trotzdem fällt doch auf, Stendhal ist schon um die vierzig. Was ist denn nun mit dem Schriftsteller Stendhal? Er hat sehr spät angefangen. Ursprünglich wollte er Dramen schreiben. Im Nachhall der Liebe zu Métilde veröffentlichte er 1822 sein Buch „Über die Liebe“, darin es mehr oder weniger um seine Liebesleiden geht, zum Romandebut „Armance“ dauerte es noch fünf Jahre. Wie für Balzac war auch für Stendhal der Journalismus eine Fingerübung, die schließlich zu den Romanen führte. Ein wenig unrühmlich begann Stendhals Weg als Schriftsteller mit Plagiaten. An seinem ersten erfolgreichen Roman „Rot und Schwarz“ wurde u.a. der völlig neuartige Stil gelobt.

Zum Ende hin, schwenken wir den Blick auf die Biografie an sich. Merkwürdig, Willms klammert Stendhals Interesse für die Archäologie gänzlich aus und der aufmerksame Leser darf sich fragen, was aus seinem Interesse an der Mathematik geworden ist, die ihm ja von Jugend her begeistert hat. Ich sonst von dieser Biografie sehr angetan bin, die in den Anmerkungen auf 793 Quellen, meist Primärquellen, verweist, beim Lesen dieser Biografie ich aber nie den Eindruck hatte, der Autor zitiere zu viel und schreibe zu wenig. Nein. In dieser Hinsicht ist das Buch sehr ausgewogen, und Johannes Willms zeichnet das Leben eines Liebenden und eines Schriftstellers sehr detailliert nach, der als Beamter große Karriere machen wollte, aber nur Konsul in einem kleinen langweiligen italienischen Städtchen wurde. Selbstverständlich fällt es auf, Johannes Willms schreibe nursehr wenig über die Romane, dabei aber zu bedenken ist, es handelt sich um eine Biografie und nicht um eine Werkanalyse. Klar geworden allerdings ist, Stendhal verewigte einige Frauen seines Lebens in den Romanen. Über „Die Kartause von Parma“ heißt es, der Roman sei „...die Summe all seiner Leidens – und Glückserfahrung in der Liebe...“. Die Chartreuse sei „insofern recht eigentlich das >Buch Stendhal<.“(Willms, Seite 281).

Liebe Grüße
mombour
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