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Lewinsky, Charles - Melnitz

08.04.2009, 10:51

„Immer, wenn er gestorben war, kam er wieder zurück“. Mit diesem Satz beginnt und endet der Roman über das Leben einer jüdischen Familie in der Schweiz zwischen 1871 und 1945. Wer sich partout nicht begraben lässt, ist Onkel Melnitz. Als ruheloses Gespenst der Erinnerung an die von Verfolgung und Leid geprägte Geschichte der Juden geistert er durch die Handlung, mischt sich mal mit stichelndem Spott, mal mit beißender Ironie in die Entscheidungen seiner Sippe ein und warnt sie davor, sich Illusionen hinzugeben, denn „ein Jude bleibt ein Jude bleibt ein Jude“. Am Ende wird er Recht behalten.

Die Erzählung setzt 1871 in Endingen ein, einem von zwei Schweizer Dörfern, in denen Juden sich dauerhaft niederlassen durften. Hier lebt Salomon Meijer mit seiner Frau Golde, seiner verwöhnten Tochter Mimi und der Ziehtochter Channele mit den zusammengewachsenen Augenbrauen und dem nüchternen Verstand. Der knorrige Patriarch hat es als Viehhändler zu einem gewissen Wohlstand gebracht und ist stolz darauf, überall als ehrlicher Mann zu gelten. Doch das fest gefügte, von religiösen Traditionen geprägte Leben der Familie ändert sich grundlegend, als am Ende der Trauerwoche für Onkel Melnitz eines Nachts ein aus Kriegsgefangenschaft entflohener französischer Soldat an die Tür klopft und sich als entfernter Verwandter vorstellt. Janki Meijer will sich nicht mit einer stillen Existenz am Rande der Gesellschaft zufrieden geben. Er träumt von einem eigenen Geschäft, von Erfolg und Ansehen. Wenig später ist er nicht nur der Schwiegersohn Salomon Meijers, sondern auch Besitzer eines Stoffladens in der nahe gelegenen Kleinstadt Baden. Damit beginnt der wirtschaftliche Aufstieg der Familie, aber auch ihr ständiger Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Die Meijers haben Glück, in der Schweiz ist der Antisemitismus nicht mörderisch. Doch auch hier werden die Juden nur geduldet und müssen mit Ausgrenzung, Feindseligkeiten und Demütigungen leben. Vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens folgt der Roman den Lebenswegen von fünf Generationen, deren Schicksal, vom altmodischen Opa Salomon bis zu dessen kämpferischen Ururenkel Hillel, immer auch exemplarisch für das Schicksal der Juden in dieser Epoche ist. Scheint sich ihre Hoffnung auf Gleichberechtigung in der wirtschaftlichen Blütezeit nach dem deutsch-französischen Krieg zunächst zu erfüllen, bedeutet das antisemitisch motivierte Schächtverbot 1893 einen herben Rückschlag. Auch von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, den Weltkriegen, den Judenpogromen in Osteuropa, dem Nationalsozialismus und der Massenvernichtung, bleibt die Familie nicht verschont. Wenn am Schluss Onkel Melnitz gar nicht mehr weggeht, in jedem Haus wohnt, an jedem Tisch sitzt, in jedem Bett schläft, werden auch die Hoffnungen und Pläne der Familie Meijer gescheitert sein.

„Melnitz“ ist eine facettenreiche, historisch detailgetreue Familienchronik mit nicht sehr differenziert gezeichneten, aber einprägsamen Figuren, lebendigen Dialogen und hintergründigem Humor. Obwohl sie spannend zu lesen ist, werden dramatische Töne vermieden. Die Meijers sind durchschnittliche Leute und führen ein durchschnittliches Leben, in dem wohltätige Kleidersammlungen, Veranstaltungen des Turnvereins und kleine Familienfeste schon die Höhepunkte bilden. Was ihnen an Glück und Leid widerfährt, und das ist im Laufe eines dreiviertel Jahrhunderts nicht wenig, wird mit großer Gelassenheit, Witz und Melancholie geschildert. Einen breiten Raum nimmt die Beschreibung jüdischer Sitten und Gebräuche ein, die der Geschichte Authentizität verleihen und trotz ihrer zunächst etwas exotischen Wirkung den Leser immer vertrauter mit der Familie werden lassen. Gekonnt verwebt Lewinsky die individuelle Geschichte seiner Figuren mit dem Schicksal der Juden in der Schweiz und in Europa. Bei aller Unterhaltsamkeit ist in dieser opulenten Familiensaga das pessimistische Weltbild stets spürbar. Auch im hanswurstartigen Auftreten des Widergängers Onkel Melnitz mit seinem meckernden Lachen und seinem um den knochigen Körper schlotternden schwarzen Anzug schwingt immer ein Moment des Grauens mit. Obwohl man bisweilen vorhersieht, was kommen wird, und die jüngeren Generationen etwas blass bleiben, ist „Melnitz“ ein gut gemachter, lesenswerter Schmöker.
Bild :stern: :stern: :stern: :stern:
Zuletzt geändert von Monika am 23.06.2009, 17:51, insgesamt 3-mal geändert.

08.04.2009, 10:51

08.04.2009, 11:23

Können auch deine Rezis ins Literaturblog übernommen werden Monika? Ich würde sie gerne aufnehmen :wink:

08.04.2009, 11:32

Gerne, Krümel! Nur der Plural "Rezis" macht mir Angst. Ich habe einen fast meterhohen Rezistau. Den abzubauen, wird den Rest meiner Tage in Anspruch nehmen. :haare:

08.04.2009, 11:35

Monika hat geschrieben:Nur der Plural "Rezis" macht mir Angst. Ich habe einen fast meterhohen Rezistau. Den abzubauen, wird den Rest meiner Tage in Anspruch nehmen. :haare:


Panisch brauchst du nicht zu werden, aber vielleicht hilft ja so ein wenig Druck :lol: Also ich brauche so was ab und an :P :grins:

:danke:

08.04.2009, 11:43

Monika, vielen Dank für deine Rezi. Das Buch führt bei mir ja auch ein ruhiges SuB-Dasein. Das sollte sich bald ändern. Aber mir fehlt die Zeit momentan. Irgendwie hat mein Tag nur noch gefühlte 16 Stunden.

08.04.2009, 12:16

Vielen Dank für die sehr aufschlussreiche Rezi, Monika! Ich habe das Buch zu Weihnachten bekommen, habe es aber bisher nicht geschafft, es zu lesen.

Ich hoffe, das wird dieses Jahr noch was...

10.04.2009, 09:30

So du bist im Team herzlichst aufgenommen worden, macht sich gut im Blog :D

10.04.2009, 11:08

Vielen Dank, liebe Monika für die wirklich aufschlussreiche Besprechung. Ich freue mich jetzt auf die Lektüre!

herzlichst: alixe
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