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Kertész, Imre - Roman eines Schicksallosen




Kertész, Imre - Roman eines Schicksallosen

Beitragvon Pippilotta » 04.06.2006, 16:24

Inhalt:

Budapest, 1943/44. Gyurka, ein 14-jähriger jüdischer Schüler – seine Eltern sind geschieden, er lebt bei seinem Vater und seiner Stiefmutter – bekommt heute schulfrei, denn sein Vater wird ins Arbeitslager einberufen. Die Familie kommt noch einmal zusammen, es wird Abschied genommen.
Kurz darauf wird Gyurka, auf dem Weg zum Arbeitsdienst in die Waffenfabrik – zusammen mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen aus den Autobus geholt und im Zug nach Auschwitz transportiert. Nach kurzem Aufenthalt dort geht es weiter nach Birkenau und nach Zeitz. Es folgt die Schilderung der unbeschreiblichen Missstände und Zustände in den Konzentrationslagern. Aufgrund einer schweren Beinverletzung kommt er zurück nach Birkenau, was letztendlich auch seine Rettung bedeutet.

Imre Kertész (Quellen: Klappentext, wikipedia):

Geb. am 9. November 1929 in Budapest.

Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Kertész 1944 über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Seine Erfahrungen dort beschrieb er in dem autobiografischen Buch „Roman eines Schicksallosen“, im ungarischen Original Sorstalanság. Der Roman wurde 2005 vom ungarischen Regisseur Lajos Koltai verfilmt.

Nach Kriegsende folgte eine journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung „Világosság“, die bald umbenannt und zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach seiner Entlassung bestritt Kertész seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller und schrieb Musicals und Unterhaltungsstücke für das Theater, um die Entstehung seines autobiografischen „Roman eines Schicksallosen“ zu finanzieren.

Für sein schriftstellerisches Werk, das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet , wurde Imre Kertész 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Meine Meinung

Es fällt mir sehr schwer, für dieses Buch eine Rezension zu erstellen, die dem Buch angemessen ist.

Das Erschütternde an diesem Buch ist für mich der Stil. Aus der Sicht eines 15-jährigen mitsamt seiner Naivität, seinem unermesslichen Optimismus und seinem absoluten Urvertrauen, das ihn letztendlich am Leben erhält, werden die Zustände im Konzentrationslager auf fast, „unbeschwerte“ Weise, beschrieben.
Für den Jungen ist die lange Zugfahrt nach Auschwitz der Anfang eines großen Abenteuers. Er versucht für alles und für jeden eine rationale Erklärung zu finden, rechtfertigt sämtliche Vorkommnisse und redet sich ein, dies alles sei „normal“. Und gerade die Tatsache, dass man als Leser sozusagen einen „Vorsprung“ hat, genau weiß, was mit ihm passiert und wohin dies alles führt, macht das Buch so unfassbar. Ein bisschen hat es mich – zu Beginn an den Film „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni erinnert. Imre Kertész selbst nimmt in einem Interview zu seinem Roman diesen Film zur Diskussion.

Gyurka wundert sich bei der Ankunft im KZ über die vielen Häftlinge, von denen sie empfangen wurden.


„Jetzt zum erstenmal – vielleicht, weil ich zum erstenmal dafür Zeit hatte – begannen sie mich etwas mehr zu interessieren, und ich hätte gerne ihre Vergehen gekannt.“


Schritt für Schritt werden die Zustände unfassbarer, unvorstellbarer, der Leser verliert den Boden unter den Füßen. Schritt für Schritt verfallen Körper und Psyche der Gefangenen.
Besonders erschütternd war für mich seine Rückkehr in seine Heimat, wo er begreift, dass niemand etwas begriffen hat.



Nichts ist so unmöglich, daß man es nicht auf ganz natürliche Weise durchleben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert, wie eine unvermeidliche Falle, das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, daß dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den "Greueln": obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse."


Absolut lesenswert!! :stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Man muss auch betonen, dass das Buch absolut wertfrei geschrieben ist und keinerlei Schuldzuweisungen, o.ä. enthält!

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Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Kertész, Imre - Roman eines Schicksallosen

Beitragvon Krümel » 02.07.2010, 10:06

Ein sehr bedrückender Roman!

Schon alleine das erste Kapitel hat mich innerlich ziemlich aufgewühlt. Die Perspektive aus der Sicht des 15 jährigen Jungen, der sich teilweise so naiv verhält, dass es extrem auffällig ist, um dann andererseits so altbacken zu sein. Im weiteren Verlauf des Buches gesellt sich dazu noch eine absolute Demutshaltung, womit ich nur schwer umgehen konnte.

“Wenn ich es richtig sehe, besteht ihre Erfindung darin, daß der Stoff irgendwie auf ein Stück Karton bespannt ist, und das ist natürlich hübscher, ja, und dann sind auch die Zacken der Sterne nicht so lächerlich verschnitten wie bei mancher Heimfertigung.”

Gyurka ist Ungar. Sein Vater wurde 1944 in ein Arbeitslager verschleppt und er wird kurze Zeit später auch, zuerst nach Auschwitz, dann Buchenwald und von dort nach Zeitz, deportiert.
In Auschwitz sieht er die rauchenden Schornsteine des Krematoriums und ihrem bestialischen Gestank, und denkt sich dabei, es wäre eine Lederfabrik, die er einst mit seinem Vater besucht hatte.
Er berichtet vom Lager, von den typischen Strapazen und Gräuel, mit einer solchen „Hingabe“, dass es dem Leser wie Messer unter die Haut geht. Es ist kaum zu ertragen. Er empfindet Glück und Freude im Lager!

Diese Betrachtungsweise erinnert stark an eine Marionette, die nur an Fäden gespielt wird und die kein wirkliches eigenes Schicksal hat.
Und in der Tat ist es nur diese Sicht, der einen diese Situation ertragen lässt. Alles andere, die Abwehr, der Kampf, das Aufbegehren, hätte sicherlich zum direkten Tod geführt. Nur das sich Einfügen hält einen Lagerinsassen am Leben.

Das Buch ist sehr tief, und der Leser beschäftigt sich sehr intensiv mit der Geschichte. Eine klare Empfehlung!

„Wir selbst sind das Schicksal.“

Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Er ist Übersetzer von Freud, Nietzsche, Hofmannsthal, Canetti, Wittgenstein u. a.. Die jahrzehntelange Arbeit am „Roman eines Schicksallosen“ finanzierte er durch Unterhaltungsstücke fürs Theater.
BildLiebe Grüße,
Krümel



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