Ich hatte "
The Gathering" schon mehrmals in der Hand bevor ihr eure Rezensionen hier eingestellt habt. Als ich es das nächste Mal in der Buchhandlung sah, habe ich es gekauft und während der letzten Woche gelesen.
Mir geht es ähnlich wie euch:
die Lektüre lässt mich mit vielen Fragen zurück. Wie Pippilotta schrieb:
Pippilotta hat geschrieben:Es ist schwer, das Buch halbwegs vernünftig zusammenzufassen.
Aus diesem Grund möchte ich hier nur ein paar Gedanken loswerden, die sich mir aufgrdrängt haben, auch wenn mir klar ist, dass es nur eine klitzekleine Auswahl der Themen und Fragen ist, die auftreten. Es ist eine persönliche Auswahl und vernachlässigt Liam und die Geschwister fast völlig, aber ich hoffe ihr verzeiht mir dies.
In einem Interview mit Anne Enright habe ich gelesen, dass dieses Buch von vielen Lesern als "bleak" beschrieben wird.
bleak = trostlos, öde, freudlos, nichtssagend
Anne Enright wehrt sich gegen diese Bewertung und besteht darauf, dass sie den Roman eher als "grim" einstuft.
grim = düster, hart, abstoßend, unerbittlich
Als düster und unerbittlich habe ich ihn ebenfalls erfahren, weniger als öde und nichtssagend. Veronica Hegarty schreibt sich ihre Erinnerungen und Beobachtungen von der Seele und die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken und Episoden fand ich durch den Erzählstil sehr gut umgesetzt. Sie berichtet über ihre Kindheit, springt dann in die Gegenwart, um sich kurze Zeit später über ihre Töchter und ihre trostlose Ehe auszulassen. All dies passt für mich gut zu einer Situation, in der man sich einerseits der Realität stellen will, aber nicht weiß, wie man zum Kern der Sache vordringen soll. Sie sagt an einer Stelle selbst (nach einem Drittel etwa), dass sie allmählich mit dem Abschweifen aufhören muss, um das eigentliche Thema anzuschneiden: Liams Mißbrauch.
Ihre Art, dem Leser ihre Erinnerungen nahezubringen ist stellenweise fast atemlos und dann doch wieder wie zähes Kaugummi - als ob sie um jedes Wort ringen müsste. Das hat mich sehr fasziniert und sie ganz leise als Mensch herausgestellt und die anfängliche Distanz allmählich gemildert.
Selbst wenn ich eure Beiträge vorher nicht gelesen hätte, hat man von Anfang an das Gefühl, dass es in ihrer Vergangenheit irgendeine Art sexuellen Missbrauch gegeben haben muss. Ihre argwöhnische Haltung gegenüber harmlosen Liebesbezeichnungen und der starke Bezug auf sexuelles haben mich misstrauisch gemacht. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich sehr starkes Mitleid mit ihr als Mutterfigur, deren Kinder nun in dem Alter sind, in dem ihre eigene und Liams Kindheit so brutal zerbrochen wurden. Hier wird eine wichtige Frage gestellt, die sich hinter ihrer Aggression gegenüber Tom verbirgt und einmal auch herausplatzt: Was weiß sie schon über die Sehnsüchte ihres Mannes? Träumt er von seinen Töchtern und wünscht sich, die Grenzen der Vater-Tochter-Beziehung zu überschreiten? Irgendwo blitzt auch der Zweifel auf: "Werde ich wie meine Mutter und versinke im Hintergrund des Familienlebens oder werde ich stark genug sein, diese Katastrophe zu verhindern? Immerhin habe ich schon einmal schweigend zugesehen..."
Die Mutter hat mich auch beschäftigt. Sie taucht gelegentlich auf und bleibt dennoch nur schemenhaft erkennbar. So wie es in Veronikas Kindheit war? Klar wird jedoch, dass sich das Hegartyuniversum um sie und ihre Befindlichkeiten dreht ("don't tell her"). Sie wird in der Erinnerung zum Kind, das von ihren Kindern beschützt, getröstet und beruhigt werden muss.
Und nun zu Ada, Charlie und Mr. Nugent:
Spoiler hat geschrieben:ich denke auch, dass sie wusste, was vor sich geht. Aber woran ich meine Zweifel habe, ist die Tatsache, dass Lamb Nugent tatsächlich ihre große Liebe war. Nirgends finden sich Beweise für Veronicas Thesen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob Veronica diese Liebe und "Hörigkeit" nur konstruiert hat, um eine Begründung für sich selbst zu schaffen, warum ihre Oma seinen Missbrauch an mindestens einem Kind der Familie (wenn nicht sogar mehreren) übersehen hat. Eine Erklärung, die nicht so profan klingt wie die finanzielle Absicherung ihrer Existenz. Diese Gedanken waren recht schnell in meinem Unterbewusstsein da, aber die geschäftsmäßigen Briefe von Lamb zum Schluss haben sie verstärkt.
Insgesamt habe ich "The Gathering" als eine Art Reise verstanden, die Veronica unternimmt, um sich und ihre Familie zu verstehen und zu einem gewissen Grad die Vergangenheit zu bewältigen. Um so wiederum eine Chance zu haben, ihren Töchtern eine glückliche Kindheit und ein echtes Familienleben zu bieten; aber auch um sich ihrem Wahnsinn und Zusammenbruch zu widersetzen.
Der Roman ist sehr gekonnt konstruiert und wahrscheinlich müsste man ihn ein zweites Mal lesen, um noch mehr herauszuziehen, bzw. Verbindungen zu sehen, die erst nach der erstmaligen Lektüre möglich sind. Interessant wäre es sicher auch, das Buch im Rahmen einer Leserunde zu lesen und durch Diskussionen auch Aspekte anzusprechen, die einem allein entgehen.
Ich danke euch jedenfalls sehr dafür, dass ihr mich dazu gebracht habt, den Roman zu kaufen und zu lesen. So erschütternd und verwirrend er auch war!
Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker und spannender erscheint mir insbesondere Veronika. Direkt nach der Lektüre hätte ich vier Sterne vergeben, aber jetzt muss ich die Bewertung doch hochsetzen auf
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Persönliches Highlight