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McEwan, Ian - Liebeswahn




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

McEwan, Ian - Liebeswahn

Beitragvon Pippilotta » 01.08.2006, 17:35

Inhalt

Die Literaturwissenschafterin Clarissa und der Wissenschaftsjournalist Joe führen eine sehr glückliche, harmonische Beziehung bis zu jenem Tag, an dem sie während eines Picknicks Zeugen eines Ballonabsturzes werden. Joe eilt zur Hilfe, dennoch verunglückt ein Insasse tödlich und Joe fühlt sich mitschuldig. Indes macht er Bekanntschaft mit einem anderen Helfer, Jed Parry, der von nun an Joes Leben völlig umkrempelt.
Jed Parry leidet an dem „Clérambault-Syndrom“ (heutzutage besser als „Stalking“ bekannt). Er behauptet – begleitet von Anfällen religiösen Wahns – in Joe verliebt zu sein, ihn bekehren zu müssen und verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Er richtet sich einen Dauerbeobachtungsposten vor Joes Wohnung ein, bombadiert ihn mit Hunderten von Briefen und terrorisiert ihn mit Telefonanrufen. Joes Zurückweisungen werden von ihm ignoriert, ihm Gegenteil, er findet sogar in dieser Form der (negativen) Aufmerksamkeit eine Bestätigung und setzt seinen Terror fort.
Joe macht dieser Terror zu schaffen, von seiner Freundin Clarissa, die eher vermeint, er bilde sich dies alles nur ein, bekommt er nicht die Unterstützung, die er sich erhofft, auch die Polizei ist machtlos, da Joes Leben ja nicht bedroht ist und keine Gewalt angewendet wird. Jed Parry beherrscht das Leben des Joe Rose und wirft es völlig durcheinander, auch ein erster Bruch in der sonst so glücklichen Beziehung zwischen Joe und Clarissa beginnt sich abzuzeichnen.

Meine Meinung

Auf sprachlich höchstem Niveau beschreibt Ian McEwan, wie der Psychopath das Leben des Joe Rose in ein Chaos stürzt. Werden Jed Parrys – vorerst zurückhaltenden Auftritte – anfangs als Lächerlichkeit abgetan, so erkennt Joe bald, wie bedrohlich die Situation wird und dass selbst seine Beziehung an einem seidenen Faden hängt. Nach und nach gerät er völlig in den Bann seines Verfolgers und sieht ihn bald an jeder Straßenecke lauern.

Der Leser wird absolut mitgerissen. Die Spannung steigt kontinuierlich, Joe Roses Anspannung spitzt sich ebenso zu, bald sieht er seinen Gegner schon wie einen Schatten und man kann kaum mehr unterscheiden, ob es Realität ist oder Einbildung. Parallel dazu schlittert die Beziehung in eine Krise, Misstrauen und Vorwürfe bringen Joe und Clarissa in eine ernsthafte Krise. Das Buch entwickelt sich zu einem absoluten Psychothriller.

Mich beeindruckt auch bei diesem Buch – wie schon bei „Saturday“ , wie fundiert und gewissenhaft Ian McEwan recherchiert und welche Fachkenntnisse er sich aneignet. Das Krankheitsbild des „Clérambault-Syndroms“ wird hier anhand des Jed Parry mit all seinen Symptomen sehr fundiert und genau dargestellt. Eine im Anhang angeführte Ausführung über dieses Krankheitsbild, inkl. Fallbeispiel, wissenschaftliche Arbeiten und Quellenverzeichnisse etc. runden das Buch ab.

:stern: :stern: :stern: :stern:
(1 Stern Abzug wegen einigen Stellen, die meiner Meinung nach überflüssig waren)

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Herzliche Grüße
Pippilotta


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von Anzeige » 01.08.2006, 17:35

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Beitragvon Girasole » 02.08.2006, 21:38

Ich bin schon einige Male in der Bibliothek um dieses Buch "herumgeschlichen" konnte mich jedoch nie dazu aufraffen es mit zu nehmen. Werde ich jedoch bei meinem nächsten Besuch machen, denn nun hast du meine Neugierde definitiv geweckt :-)
Girasole
 

Beitragvon Katia » 05.01.2009, 16:31

Mein Wichtelbuch konnte ich natürlich nicht lange liegen lassen :wink:

Viel ist Pippis Rezi nicht hinzuzufügen und dass mich einer meiner Lieblinge unter den Schriftstellern nicht enttäuschen wird, war ja auch keine große Überraschung.
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
(ich empfand keine Stellen als überflüssig, Pippi, kannst Du Dich noch erinnern, welche Du meintest?)

McEwans genau recherchierter Roman beeindruckt durch seinen Spannungsbogen und seine Zwischentöne. Es ist dramatisch zu sehen, wie die so stabile Beziehung zwischen Clarissa und Joe mehr und mehr Knackser bekommt; Misstrauen den Raum füllt, den Zuneigung vorher einnahm. McEwan zeichnet ein genaues Psychogramm, nicht nur des kranken Jed, sondern mehr noch des nicht-kranken Paars. Das Buch lässt sich pro-naturwissenschaftlich (vielleicht auch anti-religiös) lesen, auch wenn dieses Detail dem wahren Fall, auf den sich McEwan bezieht, entnommen ist. Die Geisteswissenschaftlerin Clarissa steht zwischen den beiden ...
Die Nebenhandlung um die Frau des Toten untermalt das Thema, die Fragilität des eigenen Lebensentwurf/Beziehung: auch hier stellt eine Kleinigkeit die Beziehung der beiden im Nachhinein in Frage.

Besonders gefällt mir, dass McEwan es schafft einen hochspannenden Roman zu schreiben, der trotzdem tiefgründig ist und zwar über das reine psychothrillerhafte hinaus.
Schon allein über das Unglück nachzudenken! Die Frage, wie man hätte handeln sollen, wo beginnt der Selbstschutz, wie weit muss Hilfe für andere gehen, wenn das eigene Leben gefährdet wird? Wann hätte ich losgelassen?

Eine schöne Lektüre, die viel nachzudenken bietet und sich dabei ungemein spannend liest.

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Beitragvon Pippilotta » 05.01.2009, 18:58

Katia hat geschrieben:(ich empfand keine Stellen als überflüssig, Pippi, kannst Du Dich noch erinnern, welche Du meintest?)


Leider - hab auch in meinen Notizen nachgeschlagen - kann ich mich nicht konkret erinnern, was mich gestört hat. :-(
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon tom » 05.01.2009, 21:49

Na, wie ich McEwan vom hervorragenden "Saturday" einschätze, kann ich mir vorstellen, dass eventuelle technisch-wissenschaftliche Beschreibungen manchmal ZU ausführlich geraten können... oder?
tom
 



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