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Pamuk, Orhan - Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt




Pamuk, Orhan - Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt

Beitragvon tom » 28.04.2007, 21:51

Zum Buch:
Untrennbar miteinander verbunden sind bei Orhan Pamuk die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend mit den Erinnerungen an die Stadt Istanbul. Essay, Autobiographie in einem, gut begleitet von zahllosen teils wunderbaren Photos, auch aus Autorenhand.

Zum Autor:
Geboren wurde Pamuk 1952 in eine wohlhabende Großfamilie hinein. Zwar kommt es später zu mehreren Wohnungswechseln innerhalb der Viertel (und einem Aufenthalt in den USA), doch bleibt er der Stadt eng verbunden. Im Laufe der Jahre verliert die Familie ihren Reichtum. Sie ist der Tradition Atatürks folgend dem Westen hin offen und Orhan wächst mit westeuropäischen Autoren auf; besucht ein englischsprachiges College. Er wollte zunächst Maler werden, musste sich aber zunächst auf ein Architekturstudium einlassen. Später wechselte er und erwarb einen Abschluß als Journalist, arbeitete aber schnell als freischaffender Schriftsteller.
2005 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 den Nobelpreis für Literatur.

Einige Eindrücke:
Mich fasziniert zunächst die einfache Frage: Wie erlebt jemand seine eigene Stadt, welchen Blick wirft man auf sie? Wie stehe ich im inneren Dialog zu den Strassen, Orten, Ruinen? Woher kommt eigentlich dieser Orhan Pamuk, der nun nach dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auch den Nobelpreis erhalten hat und dessen Buch „Schnee“ ich begeistert gelesen habe? UND mich interessiert auch, wie sich denn nun (nach Einschätzung des Autors) Istanbul und die Türkei befinden bzw. wo sie denn stehen.

Ich habe wohl nie von einer solchen Verflechtung zwischen Identität, eigenem Werden und Empfinden, Aufwachsen UND dem Herkunftsort, der Stadt gelesen. So ist dieses Buch sicherlich geeignet, Orhan Pamuk kennen zu lernen, der sich sehr persönlich äußert, aber gleichzeitig und untrennbar davon auch etwas von jener Atmosphäre Istanbuls zu erahnen, die sich auf ihre Einwohner auswirkt, so sehr, dass das Erzählen über die Stadt immer auch ein Erzählen von sich selbst ist und das Erzählen von sich selbst immer auch ein Erzählen über die Stadt.

Istanbul erscheint als Stadt mit einer großen Vergangenheit (ottomanisches Reich) aber wie am Ende einer Epoche, Zivilisation. Die sichtbaren Ruinen, eine Art Nostalgie jener Zeit prägen das Heute. Dies nennt Pamuk die „Melancholie der Ruinen“. In dem Zusammenhang taucht immer wieder ein typisch türkischer Begriff auf „hüzün“: eine Art gemeinschaftlich erfahrener Schwermut. Diese Beobachtungen erinnerten mich so sehr an vielleicht ansatzweise ähnliche „Gemüter“, in Portugal, Russland...

Dieses Buch ist nicht ein Reiseführer für einen Zweitagesaufenthalt in Istanbul. Doch wer vielleicht schon dort war, oder aber das Land und das Empfinden der Einwohner besser kennen lernen will (eventuell ja auch einfach Pamuk selbst), findet in diesem Buch eine sehr schöne Einführung und Vertiefung.
Mir ging öfters durch den Kopf, wie sehr dieses Buch gerade für Menschen im Kontakt mit türkischen Menschen, oder für ein besseres Verstehen des Gemüts interessant wäre. Angesichts der Frage der Nähe oder Ferne der Türkei zu Westeuropa, bzw. der Mitgliedschaft in der EU bieten die Gedanken von Pamuk viel Stoff...

Immer interessant zu lesen, wenn auch eventuell ein bisschen zu lang.

:stern: :stern::stern::stern:

(aber ich vergebe ja gerne Sterne...; es ist keine ganz einfache Lektüre und ich hörte auch schon, das es zu langweilig wird. Kommt wohl drauf an, was man sucht!)

Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
Verlag: Hanser; Auflage: 1 (18. November 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3446208267
ISBN-13: 978-3446208261

Diese noch recht neue gebundene Ausgabe ist deftig teuer. Vielleicht gibt es schon bald eine TB-Ausgabe?
Ich las die englische Ausgabe und kann nichts über die deutsche Übersetzung sagen. Zumindest die amerikanische Ausgabe wäre wesentlich billiger:
Istanbul: Memories and the City (Paperback)
by Orhan Pamuk
978-1400033881

Bild
Zuletzt geändert von tom am 29.04.2007, 11:22, insgesamt 1-mal geändert.
tom
 

von Anzeige » 28.04.2007, 21:51

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Beitragvon Krümel » 29.04.2007, 10:47

Das Buch steht schon länger auf meiner Wunschliste, und nach deiner Rezi muss ich es wohl bald kaufen :wink:
Wie würdest du das Buch bewerten Tom? (Die Sterne findest du bei "weitere Smilies ansehen")
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon tom » 29.04.2007, 11:24

Habe die Sterne reingestellt. Eventuell wäre es Dir zu trocken, Heidi??? Ich wäre sehr interessiert an einer anderen Meinung!
tom
 

Beitragvon Krümel » 29.04.2007, 11:40

tom hat geschrieben:Habe die Sterne reingestellt. Eventuell wäre es Dir zu trocken, Heidi??? Ich wäre sehr interessiert an einer anderen Meinung!


Trocken, weiß nicht :wink: Weine sollten staubig sein, auch viele meiner Bücher sind eher trocken als spannend und unterhaltsam. Die Sprache ist mir persönlich fast am wichtigstens, und meine Lieblingssprache ist die von Th. Mann.
Wobei ich in der letzten Zeit festgestellt habe, dass mir Humor ganz wichtig geworden ist. Ob nun direkt, oder durch Ironie verdeckt, meinst du das?
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon tom » 29.04.2007, 11:54

Hallo Heidi!
Mit "Trocken" meinte ich nicht Ironie o.ä., sondern vielleicht das Thema? Ein ellenlanges Buch über eine Stadt, die vielen von uns zunächst mal fern steht..., eine stark autobiographisch gefärbte Schilderung eines Autors, von dem man eventuell zunächst schon was anderes gelesen haben soll (um schon für ihn Interese zu haben)?
Was Mann betrifft, meine ich mich zu erinneren, dass Pamuk ihn eindeutig zu den Größten zählt. (Übrigens vergass ich gestern bei der Einstellung zu Erri de Luca zu erwähnen - Zaunpfahl -, dass "Der Zauberberg" sein Lieblingsbuch ist!!!)
tom
 

Beitragvon Krümel » 29.04.2007, 12:31

tom hat geschrieben:Übrigens vergass ich gestern bei der Einstellung zu Erri de Luca zu erwähnen - Zaunpfahl -, dass "Der Zauberberg" sein Lieblingsbuch ist!!!)


Das ist natürlich ein Grund Erri de Luca kennen zu lernen :thumright:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon Coco » 29.04.2007, 13:36

@Tom
kennst Du Istanbul ?

... es ist herrlich, ein Buch in der Stadt zu lesen (oder direkt nach dem Besuch) in der es spielt. Ich habe "Tod in Venedig" in Venedig begonnen, zuhause beendet, es war viel viel atmosphärischer - war nur leider die falsche Jahreszeit ....
Liebe Grüsse
Coco

-----------

:studie:

Charlotte Bronte - Villette
Gerhard Henschel - Abenteuerroman
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Beitragvon Krümel » 29.04.2007, 13:46

Coco hat geschrieben: Ich habe "Tod in Venedig" in Venedig begonnen, zuhause beendet, es war viel viel atmosphärischer - war nur leider die falsche Jahreszeit ....


Das kann ich mir gut vorstellen Coco. Ich hätte "Fabian" auch lieber nach Berlin gelesen, und vielleicht hätte ich auch "Berlin Alexanderplatz" beendet, der übrigens heute in Schutt und Asche liegt :cry: , wird aber wieder aufgebaut :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon marilu » 29.04.2007, 16:01

tom hat geschrieben:Hallo Heidi!
Ein ellenlanges Buch über eine Stadt, die vielen von uns zunächst mal fern steht..., eine stark autobiographisch gefärbte Schilderung eines Autors, von dem man eventuell zunächst schon was anderes gelesen haben soll (um schon für ihn Interese zu haben)?


Aus diesem Grund ist das Buch bisher nichts für mich. Vielleicht fange ich Feuer, wenn ich "Schnee" gelesen habe. Aber Städtebeschreibungen sprechen mich meist mehr an, wenn ich schonmal vor Ort war.
Scharfsinnig bin ich von Montag bis Freitag. Übers Wochenende leiste ich mir den Luxus der Dummheit.
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Beitragvon tom » 29.04.2007, 17:00

Coco hat geschrieben:@Tom
kennst Du Istanbul ?


Nein, Coco, und doch sprach mich dieses Buch sehr an, da es eine Thematik aufgreift, die ich selber sehr aktuell und wichtig finde: Der Platz der "Türkei" in Europa, bzw. zwischen den Kulturen.
Und ich selber habe festgestellt, dass mir beim Verstehen einer anderen Kultur, oder einer Stadt etc. ein erzählendes Buch oft viel mehr gibt als eine philososphische, soiologische oder politische Abhandlung!
Trotz aller Unterschiede - und das ist mein Erleben bei eigentlich jeder Reise - findet man immer bei ein wenig innerer Anstrengung einen gemeinsamen Nenner mit den Chakteren eines Volkes. So fand ich seltsamer Weise in "Istanbul" Elemente meiner Erfahrungen aus Russland etc...
tom
 



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