Der junge Tamura lebt bei seinem kalten, lieblosen Vater in Tokio, Mutter und Schwester haben die Familie schon vor vielen Jahren verlassen. Um einer düsteren Prophezeiung seines Vaters zu entgehen, flieht er an seinem fünfzehnten Geburtstag aus seiner Heimatstadt und findet schließlich weit weg auf der Insel Shikoku Unterschlupf in der Komura-Gedächtnisbibliothek. Dort freundet er sich mit dem transsexuellen Oshima an und verliebt sich in die fünfzigjährige, geheimnisvolle Bibliotheksleiterin Frau Saeki, in deren Zimmer er das Bild „Kafka am Strand“ entdeckt.
Parallel dazu wird die Geschichte des alten Nakata erzählt, der seit einem rätselhaften Vorfall während eines Schulausflugs in seiner Kindheit geistig behindert ist. Als er eines Tages in einen Mordfall verwickelt wird, verlässt er Tokio. Unterwegs trifft er den schlichten Fernfahrer Honisho, und sie setzen ihren Weg gemeinsam fort. Er führt sie ebenfalls zur Komura-Bibliothek, die als eine Art Schwingtür zwischen den verschiedenen Ebenen fungiert, zwischen Kafkas und Nakatas Schicksal, Realität und Phantasie, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod.
Auf seiner Abenteuerfahrt legt sich Tamura den Namen Kafka - "Krähe" - zu, denn in seiner Einbildung wird er von einer weisen Krähe begleitet. Natürlich kennt er auch die Werke des tschechischen Dichters, doch mit Kafka hat die zwischen Realität und Phantasie angesiedelte, esoterisch angehauchte und bemüht verrätselte Geschichte nicht das Geringste zu tun, sondern erinnert eher an pseudotiefgründige Sinnsuche à la Paulo Coelho. Es geht um Vorbestimmung, Selbstfindung und Erlösung. Wenn man einmal der Vorsehung in die Hände gefallen ist, gibt es kein Vertun mehr. Kafkas und Nakatas Reise zu einem unbekannten, aber sie magisch anziehenden Ziel geht stracks voran, Irrtümer oder Sackgassen ausgeschlossen. Das fand ich trotz der vielen Überraschungen, mit denen die Geschichte aufwartet, dann doch überraschend langweilig.
Dabei gibt es wirklich allerhand zu bestaunen: Fische regnen vom Himmel, Werbefiguren werden lebendig, einer sieht Geister, der andere kann mit Katzen sprechen, auf einem Schulausflug fallen alle Kinder in Ohnmacht und die Lehrerin bekommt ihre Periode. Dazu werden reichlich Bildungshäppchen feilgeboten. Ein bisschen Mozart, ein bisschen Haydn, etwas mehr D-Dur-Sonate von Schubert und Erzherzog-Trio von Beethoven, die Philosophen Hegel und Bergson werden zitiert und der gute alte Ödipus-Mythos mal wieder auf ziemlich kitschige Weise bemüht. Natürlich kommt auch das Thema Sex nicht zu kurz. Mal ist er mehr von der schicksalhaften Sorte, mal einfach nur ordinäres „Ficki-Ficki“, eine Philosophiestudentin arbeitet als Liebesmaschine, und wir werden regelmäßig informiert, wenn sich Kafkas Vorhaut wieder schält. Das ist schön zu wissen, aber diese aus allen möglichen literarischen Sparten zusammenmontierten Versatzstücke kommen mir vor wie reines Brimborium, Effekthascherei, die nicht vorhandene Fülle und Komplexität vortäuschen soll. Die meisten mysteriösen Vorkommnisse werden auch am Schluss nicht aufgelöst, sie bleiben Rätsel um des Rätsels willen.
Mit den handelnden Personen - allesamt sympathische Leute, die in freundschaftlicher Harmonie zueinander finden - kann ich auch wenig anfangen. Kafka wirkt mit seiner einsichtigen, beherrschten Art viel zu abgeklärt für einen Fünfzehnjährigen, der androgyne Oshima langweilt mit seinen kulturellen Belehrungen und Nakata entspricht dem Stereotyp des in seiner schlichten Einfalt doch so weisen alten Mannes. Frau Saeki ist eine völlig blasse, blutleere Erscheinung. Sie schweigt rätselhaft, lächelt rätselhaft und schaut rätselhaft in die Ferne. Die Handlung wird zunehmend mystischer und phantastischer, zum Teil auch auf alberne Weise grotesk. Das Ende ist dann aber amüsierend nüchtern. Ein unbedarfter LKW-Fahrer hat seine Liebe zur klassischen Musik entdeckt und Kafka drückt wieder brav die Schulbank. Das nennt man wohl einen bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsroman.
Mich stört auch gewaltig, dass "Kafka am Strand" wieder eines dieser heutzutage so häufigen Bücher ist, in denen die Personen unablässig siebengescheit daherreden. Man bekommt Blümchenweisheiten bei Coelho zu lesen, Bedeutungsschwangeres bei Mercier, bei Zafón geben sogar Kinder Merksätze zum Mitschreiben von sich und auch Murakami spart nicht mit Kalendersprüchen. Nichts gegen kluge Gedanken, aber die müssen sich aus dem Text heraus entwickeln, nicht als Sprechblasen eingebaut werden, zumal es sich meistens um Plattitüden handelt. „Das Leben ist eine Achterbahn, mal geht es rauf, dann wieder runter“, auf solche Perlen der Weisheit kann ich getrost verzichten.