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Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon Casoubon » 14.10.2011, 16:57

Inhalt (von Amazon.de):

Paris, 1897. Der Italiener Simonini erwacht in einer Pariser Wohnung ohne Erinnerung an die vergangenen Tage. Er beginnt Tagebuch zu schreiben, um sich von seiner Kindheit über die Erlebnisse während des Risorgimento und der Pariser Kommune an die Gegenwart heranzutasten. Doch während er schläft, kommentiert jemand seine Einträge und entlarvt Simonini nicht nur als durchtriebenen Fälscher und Agenten, sondern auch als höchst gefährlichen Antisemiten und Mitverfasser der Protokolle der Weisen von Zion. Atemberaubend virtuos spielt Umberto Eco mit historischen Fakten und literarischer Fiktion, mit Wahrheit und Fälschung, mit Identität und Erinnerung.

Casoubon sagt:

Die Vorfreude auf dieses Buch war wie bei jedem neuen Roman von Eco riesengroß - aber diesmal endete es nicht als "Regalleiche" :wink: , sondern wurde umgehend weggelesen.

Ich hatte zu Beginn ein paar Probleme mich am Ort des Geschehens gedanklich einzufinden, da ich aufgrund des Titels selbstverständlich von Prag ausgegangen bin - aber französische Straßennamen haben mich dann auf die richtige Fährte gebracht und ich befand mich in einem Paris der vergangenen Zeiten.
Ausgangspunkt der Handlung ist der Gedächtnisverlust von Simonini, der anfängt Tagebuch zu schreiben, um seine Erinnerungen wieder zum Vorschein zu bringen. Sein Lebensrückblick ist auch ein geschichtlicher Rückblick in das 19. Jahrhundert. Erstaunlich für ihn (und auch anfangs für den Leser) ist, dass ein anderer auch in dem Tagebuch schreibt, und ihm Gedächtnislücken schließt. Neben der Suche nach seiner Erinnerung muss Simonini auch die Identität des Mannes herausfinden.
Es werden Intrigen gesponnen, Verschwörungstheorien veröffentlicht und Material gesammelt für DIE eine wichtige Schrift seines Lebens - der Beweis für die "jüdische Weltverschwörung" - es ist eine verworrene Geschichte, die Eco für seine Leser gesponnen hat - aber ist sie wirklich erfunden? Einzig Simonini ist der Phantasie des Autors entsprungen, die weiteren Handelnden haben wirklich existiert und auch die Schriften haben den Weg in die Geschichtsbücher gefunden. Eco zeigt in dem Buch wieder sein Können, ein dichtes Netz an Informationen zu spannen und Geschichte lebendig werden zu lassen.

Erwähnenswert ist das Layout - das Buch ist sowohl mit Schutzumschlag, als auch ohne eine Augenweite - auf dem Bild seht ihr links ein "Einlesebuch" im Schutzumschlag und daneben das Buch ohne Schutzumschlag.

Bild

Auch war es schön, dass die zwei Schreiber des Tagebuchs und der Erzähler, der an manchen Stellen "eingreift" und die verwirrten, ausgedehnten Gedenken von Simonini und dem anderen Schreiber für den Leser zusammenfasst, eine eigene Schriftart bekommen haben. Die Geschichte wird von vielen Bildern illustriert.

Theo fand das Buch übrigens auch schick:

Bild

Rundherum:

ISBN: 978-4336237360
Verlag: Hanser
Seiten: 510
Sterne: :stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

LG
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von Anzeige » 14.10.2011, 16:57

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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon wolves » 17.10.2011, 09:08

Das Buch sieht wirklich klasse aus :thumleft: Und klingt inhaltlich sehr gut! Schawupp landet es auf meiner persönlichen Endlos-Wunschliste. Danke für die Vorstellung!
Liebe Grüße
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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon Casoubon » 17.10.2011, 10:10

Eigentlich stehe ich dem Layout eines Buches eher neutral gegenüber - wenn sie nett anzusehen sind, ist es schön, aber prinzipiell sollte der Inhalt mich überzeugen. Aber bei dem Buch werde ich mir untreu und werde es so im Regal platzieren, dass man es immer von vorne sehen kann :wink: ...
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Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon mombour » 22.11.2011, 20:26

"Der Friedhof in Prag"

Bild

Ein Roman, der lieber ein Sachbuch gewesen wäre
:clap:

Umberto Eco ist Autor von Sachbüchern, Essays und Romanen. Sein neuster Roman „Der Friedhof im Park“ handelt von fiktionalen Quellen, die eine Weltverschwörung der Juden belegen sollen. Dieses Pamphlet, eine Fälschung, entstand wenige Jahre nach 1897, dem zeitlichen Ende des Romans, in diesem Jahr der Protagonist des Romans, der Antisemit, Vielfraß und Frauenhasser Simone Simonini, in Paris sein Tagebuch schreibt, in dem er die Vorgeschichte dieser Fälschung darlegt, Die Protokolle der Weisen von Zion. Dieses Lügenwerk war den Nazis willkommen, einige Unverbesserliche halten diese Protokolle für wahr, wie der Holocaustleugner und Bischof der Piusbruderschaft Richard Williamson, der diesen Unsinn als „gottgesandt“ einstuft.

Der in Paris lebende Simone Simonini ist die einzige Figur des Romans, die Umberto Eco der Fantasie entsprungen ist, alle anderen Personen sind historisch belegt. Trotzdem ist Simonini auch nur eine Collage von mehreren Personen, die es im neunzehnten Jahrhundert gegeben hat. Ich gehe davon aus, und vieles spricht dafür, dass der Roman größtenteils aus Textcollagen besteht. Das ist eine Kunst, deren Thomas Mann sich auch gerne bedient hat. Schwierigkeiten, die bei der Lektüre vorkommen können, kann zu einem Teil einer historischen Unkenntnnis des Lesers ursächlich sein. Das schreibe ich mal so provokant hin, als ob man dem Leser Vorwürfe machen könnte. Das ist natürlich Unsinn. Es liegt immer noch in der Verantwortung eines Schriftstellers, wie er einen Roman konzipiert. Um es kurz zu machen: In den Kapiteln um Garibaldi und Napoleon III. begann es schon, dass ich inhaltlich den Faden verlor, vieles verständnislos wurde, weil meine Bildung (oder Unbildung) versagte. Nach der Lektüre ist man gescheit: Ach, hätte ich vor dem Schinken die Geschichte Italiens und Frankreichs studiert, dann hätte ich mehr vom Roman gehabt. Eine große Hilfestellung während der Lektüre war der wikipedia-Artikel „Protokolle der Weisen von Zion.“ Momentmal. Erstmals ist es mir passiert, dass ich einen Roman in etwa nur folgen konnte, weil ich einen bestimmten wikipedia- artikel zur Verfügung hatte. Das kann ich gar nicht gutheißen. Sicher, Eco hat recherchiert bis in die letzten Winkel. Sogar die Theosophin Madame Blavatzky findet Erwähnung, wir erfahren auch nebenbei, Simonini sei mit Alphonse Daudet befreundet, dieses aber hätte gar nicht erwähnt werden müssen, denn Daudet taucht im Roman niemals auf, Victor Hugo wird zweimal erwähnt, George Sand und Chopin dürfen natürlich auch nicht fehlen, natürlich auch nicht Charcot, Freud, Hysterieforschung, Mesmerismus. Was ich sagen will, Umberto Eco packt alles in dem Roman hinein, als ob er das ganze Paris in den Roman packen wolle, obwohl niemandem aufgefallen wäre, wenn Simonini mit Daudet nicht befreundet gewesen wäre. Das mag eine Liebelei von Umberto Eco sein, der aus Freude an seiner überaus großen Bildung alles in den Roman hineinfließen lassen wollte.. Unbedingt nötig ist das nicht, eher eine Überfrachtung, allerdings das herrliche wunderbare Kapitel um Freud, Charcot und Hysterie für den Roman unverzichtbar ist. Ja, naturlich. wunderbare literarisch gut ausgeformte Passagen gibt es natürlich wie auch der einführende Monolog Simoninis, auch wenn dieser Monolog an Gehässigkeit wohl kaum zu überbieten ist. Dass sogar Dostojewskij (seltsamerweise?) für eine Weltverschwörung herhalten muss, hätte wohl niemand erwartet. Dostojewskij sei ein guter Rhetoriker heißt es. Erst zeige er Verständnis für die Juden und drücke seine Hochachtung aus,

Eco hat geschrieben: dass alles, was Humanität und Gerechtigkeit erfordere, alles was Menschlichkeit und das christliche Gesetz erfordere, für die Juden getan werden muss...

und dann wird gesagt, Dostojewskij hätte ausführlich beschrieben,
Eco hat geschrieben:wie diese unglückliche Rasse darauf abziehlt, die christliche Welt zu zerstören.


Natürlich hätte ich gerne gewusst, wo diese Ausführungen Dostojewskijs im Werk dieses Schriftstelles zu finden ist, Eco allerdings in einem Roman nicht zu Quellenverweisen verpflichtet ist. Allerdings, wenn ich mir die zweite Hälfte des Romans anschaue, hätte ich mir gewünscht, Umberto Eco hätte sich für die Form eines Sachbuches entschieden. In der zweiten Hälfte des Romans verarbeitet Eco fast nur abstruse fiktive Ideen aus der Literatur, z,B. Hermann Goedsche, der in seinem Roman „Biarritz“ höchst seltsames über Juden verfasste und LéoTaxil, der abstruses über satanische Riten und Freimaurerei veröffentlicht hat, was nun ein gefundenes Fressen für den bösartigen Simonini ist. Allerdings ebbt dies bischen Romanhandlung im Roman ziemlich ab, dass ich mich wirklich fragen muss, warum dieses Buch nicht ein erstklassiges Sachbuch geworden ist, jetzt aber einen unausgegorener Roman vor uns liegt, dabei aber nicht vergessen werden darf, Umberto Eco den wunderbaren großartigen Roman „Der Name der Rose“ geschrieben hat. Ein Roman mit Historie, Theologie, Philosophie; dieses Werk aber ein großartiger Roman geworden ist, den ich ohne Sekundärliteratur inhaliert habe. Ein großes Vergnügen. Trotzdem hatte der Verlag eine „Nachschrift“ veröffentlicht.. Für „Der Friedhof im Park“ halte ich einen Kommentar mit Quellen für notwendig. Ein paar wikipedia-artikel als Sekundarmaßnahme ist mir einfach zu bleich.
:stern: :stern:

Liebe Grüße
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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon Susannah » 22.11.2011, 22:22

Ich hatte dieses Buch schon mindestens fünf Mal in der Hand und habe überlegt, ob ich es mir kaufen soll. Die Angst davor, dass ich es nicht verstehen könnte, hat mich davon abgehalten. Und wie ich sehe, hatte ich recht damit. Es ist schon ok, wenn Literatur bildet, aber ich lese in erster Linie zur Unterhaltung und mag nicht, wenn ich mich erst bilden muss um ein Buch lesen zu können. Das ist irgendwie der verkehrte Weg für mich.

Ergo: Ich werde die Finger davon lassen... Erstmal...
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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon Coco » 23.11.2011, 07:53

Ich kann hier Susannah voll zustimmen!
Liebe Grüsse
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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon Krümel » 23.11.2011, 16:03

Fein! Dann kann ich diese Rezi ins Blog setzen und brauche selber höchstens noch einen Kommentar, eine kleine Ergänzung, zu schreiben :clap: :thumleft:
BildLiebe Grüße,
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Re: Eco, Umberto - Der Friedhof in Prag

Beitragvon mombour » 23.11.2011, 16:32

Gut. Gut. :mrgreen:
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