Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Weidemann, Siggi: Gebrauchsanweisung für Brüssel und Flande




Weidemann, Siggi: Gebrauchsanweisung für Brüssel und Flande

Beitragvon chip » 25.07.2010, 09:50

Alle Bücher zu Belgien berichten vom Desinteresse des Volkes ggü ihrem Land. Das war bei mir nicht anders. Durch irgendeinen Zufall bin ich dann nach Brüssel gekommen mit einem simplen Reiseführer im Gepäck. Beim Durchblättern stieß ich auf spannende Dinge, die mir vorher unbekannt waren - logisch, hatte ich mich ja nie damit befasst - und erkannte, dass das kleine Land unglaublich reich ist und von mir für würdig befunden wurde, entdeckt zu werden. Zum Beispiel wurde zur Zeit der Habsburger ein Fünftel des gesamten Staatshaushaltes für Kunst und Kultur ausgegeben. Belgien ist heute immer noch Synonym für Fritten, Bier, Pralinen, Waffeln, Diamanten, Brüsseler Spitze, Radsport, Comic, Renaissance-Malerei... Das Volk präsentiert sich dennoch unbeeindruckt und verhalten: "Mein Begleiter erklärte, dass sich das Leben seiner Landsleute im Verborgenen abspiele und das habe mit der Geschichte zu tun, denn wie alle besetzten Länder habe man den Wunsch, "unsichtbar" zu bleiben. Vorhänge gehören zur Wohnkultur wie Fritten zum Essen.
Belgien war ein Landstrich, das seit 2000 Jahren von Dritten beherrscht wurde: Römer, Burgunder, Habsburger, Franzosen. "Die letzte Besatzungsmacht ist die eigene Regierung." schreibt der Brüsseler Autor Geert van Istendael, denn heute noch werden die Staatsoberhäupter misstrauisch gemustert. "Ausgetrickst wird in erster Linie der Staat. Geschummelt wird auch mit Baugenehmigungen, bei den Steuern.... Dabei fühlt er sich im Recht, weil er die höchsten Steuersätze Europas hat."
Erst nach der Revolution 1830, die ihren Anfang während einer Opernaufführung findet, beschlossen die großen Mächte, Belgien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Ein Kunstprodukt also, das vor Allem als Pufferstaat herhalten sollte, um so die verfeindeten Großmächte zu trennen. Deshalb wurde das Land auch immer wieder Schauplatz von blutigen Schlachten zwischen Franzosen, Deutsche und Engländer. Bei der Gründung des Staates hatte man jedoch nicht bedacht, dass zwei Volksgruppen in Zukunft miteinander leben mussten, die so gar nichts miteinander gemein hatten. Germanische und römische Wurzeln mit unterschiedlicher Kultur, Religion, Sprache, Interessen,... und diese simple Tatsache muss auch heute immer wieder für Konflikte herhalten.

Brueghel malte damals schon auf Leinwand, was dem Belgier noch heute lebenswert erscheint: Genießen, Vergnügen, essen und trinken. "Lieber bereuen als kein Genuss.". Brüssel nimmt verhältnismäßig viel Platz im Buch ein und erzählt von der zerstörerischen Bauwut in den 1960er Jahren und von seinen Bewohnern: "Hier pflegt man keine hauptstädtische Großspurigkeit und übertriebene Selbstdarstellung, sondern Internationalität, Gelassenheit im Umgang mit anderen Menschen sowie Interesse an Kunst und den schönen Dingen des Lebens." Von Exilanten, Flüchtlingen und Verfolgten, die Zuflucht in Brüssel suchten, weil sie die wohl "freieste Stadt Europas" war. Karl Marx schrieb hier sein Manifest, Rimbaud und Verlaine konnten hier ihre Liebesbeziehung ausleben, die Brüder Lumière präsentierten hier ihre ersten Filme,

Von alldem handelt dieses Buch, kritischer als ich es je sein könnte und ausführlicher, geschmückt mit Zitaten jener Zeit und netten Anekdoten. So berichtet Weidemann auch vom Streben nach Unabhängigkeit der bedeutendsten Städte und ihrem florierenden Markthandel.

Ab 1250 wuchs Brügge wegen seines Hafens zu einem Welthandelsstaat auf. "In den Speichern lagerten Gobelins aus Oudenaarde, russische Pelze, Falken aus Island, Schwedenerz, Holz aus dem Baltikum, Wolle aus England, schonische Heringe, norwegischer Stockfisch, Gewürze aus Italien, Getreide, Bernstein und Diamanten... Hier hatten Kaufleute von Hamburg bis Riga, aus Sizilien und Genua ihre Niederlassungen." Der Reichtum und das Ansehen versandeten gemeinsam mit dem Seezugang um 1600. Brügge war mit einem Schlag aus der Geschichte gefallen. Die Stadt verfiel im Dornröschenschlaf, bis Georges Rodenbach den Roman "das tote Brügge" veröffentlichte. Sie erwachte zu neuem Leben, wurde ein wenig renoviert und dient heute als Freilichtmuseum. "An Bruges-la-morte wird heute prächtig verdient. Der Schweizer Arzt Felix Platter war im 19. Jt voll des Lobes: "Die Einwohner in Bruck sindt freundlicher, höflicher, kunstreicher als die anderen Flanderer." Einen "sachten Gang" wollte der Dichter Rainer Maria Rilke bei seinem Besuch festgestellt haben. Der französische Romancier Marcel Proust schickte eine Melancholikerin jährlich zur Erholung nach Brügge, "weil das der einzige Ort auf der ganzen Welt ist, wo die Atmosphäre vollkommen der notwendigen Trauerstimmung entspricht". Diesen Satz muss man zweimal lesen: Melancholie als Standortfaktor."

Das wenig entfernte Gent konkurriert mit Brügge und steigt ab dem 15. Jt zur zweitgrößten Stadt Europas auf. Sie baut auf die Textilindustrie, die ihr einen enormen Reichtum beschert. Das Wort "Mode" taucht hier erstmalig auf und versorgt die Aristokratie Europas mit feinsten Stoffen. Rebellen sind hier zuhause, entscheidende Aufstände finden hier statt, über die selbst Goethe ein Theaterstück schreibt. Architektur aus 10 Jahrhunderten ist hier noch immer vertreten und Gent wird wegen der Turmsilhouette "Manhattan des Mittelalters" genannt. Dort hängt auch der berühmte Genter Altar von Jan van Eyck, der zum spektakulärsten Diebstahl der belgischen Geschichte führt, ganze Mappen füllt und bis heute nicht aufgeklärt wurde.

Antwerpen gedeiht durch seinen Hafen, nachdem Brügge sein Monopol verloren hat. Hier wird der bedeutendste Verlag nach Gutenberg gegründet, der wissenschaftliche Werke fördert. Hier wird das Schleifen von Diamanten erprobt und mutiert zum größten Diamantenzentrum der Welt. Juden verteidigen dieses Imperium, dessen jährlicher Umsatz rund 25 Milliarden Euro ausmachen. Dieses Viertel gilt übrigens als einziger Ort in Europa, in dem Juden nirgendwo sonst ungezwungener und selbstverständlich leben können als hier und die dennoch manisch die Straßen überwachen. Und die Mode aus Antwerpen ist heute gefragter denn je. "Antwerpen ist die kleinste Weltstadt - aber das größte kosmopolitische Dorf Europas. Nicht allein durch den Hafen und den Diamantenhandel. Die Rubensstadt spielt auch kulturell eine wichtige Rolle von Mode bis zur Rockmusik, von Schauspiel bis zu den Museen, von Lifestyle bis Design, alles vor konzentrierter historischer Kulisse."

Im 19. Jt dann regiert Leopold II. in Belgien und kolonisiert den afrikanischen Kongo. Auch er verhilft Belgien zu frischem Reichtum und Ansehen, doch zu welchem Preis. Er hält sich Sklaven und hackt deren Hände ab, wenn er mit ihnen unzufrieden ist. Gottfried Keller hält die Gräueltaten im Roman "Herz der Finsternis" fest. Leopold aber weiß seine Taten zu verdecken und sie werden nur per Zufall von einem Hafenarbeiter entdeckt, dem es seltsam vorkommt, dass er das Schiff nach Afrika nur mit Kriegsgerät verladen soll. In der Zwischenzeit hat das Land durch den Kautschuk verdient und imposante Bauten in Auftrag gegeben, darunter den Jubelpark, dessen Triumphbogen heute von den Kongolesen im Matongé-Viertel Brüssels abfällig als "Tor der abgehackten Hände" gebrandmarkt hat. Auch den gigantischen Justizpalast und die heute fünftgrößte Kirche der Welt lässt er in seinem Größenwahn errichten. Er wird fast im ganzen Land auf dem Sockel gehoben, noch immer zeugen Denkmäler von seiner Leistung im Land, der die Arbeitsbeschaffung angetrieben hat, die erste europäische Eisenbahn einweihte und das gesamte Schienennetz an Cockerill zu Lüttich in Auftrag gab. Sie stieg zum 6.größten Stahlwerk Europas auf. Nach dem 2. WK ist es die Kohle, die für Belgiens Reichtum sorgt. Charleroi und Lüttich erleben ihr goldenes Zeitalter, das aber schnell versiegt. Heute gleicht Charleroi einer Geisterstadt, in der halbfertige Metrostrecken brach liegen, ganze Straßenabschnitte unbefahrbar, da unerreichbar sind. Diese Stadt wollte hoch hinaus und ist bereits auf dem Reißbrett abgesoffen. Heute hält wieder Flandern das Zepter in der Hand, denn es produziert 60% des Einkommens, während die Wallonie nur 25% beisteuert.
Wer mehr (noch mehr :oops: ) über Belgien erfahren möchte, dem sei dieses Buch wirklich ans Herz gelegt. Seine Sprache ist locker und unterhaltsam.

Bild
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

von Anzeige » 25.07.2010, 09:50

Anzeige
 

Re: Weidemann, Siggi: Gebrauchsanweisung für Brüssel und Fla

Beitragvon Pippilotta » 25.07.2010, 12:01

Ich kenne aus dieser "Gebrauchsanweisung-Serie" die Ausgabe über London, und kann sie auch nur weiterempfehlen! Ich habe sie als Hörbuch gehört (gelesen von Heike Makatsch) und zwar nach unserem London-Besuch.
Sie unterscheidet sich wohltuend von herkömmlichen Reiseführern, setzt aber doch einiges an Wissen voraus (zumindest empfand ich das bei der London-Ausgabe). Man bekommt den einen oder anderen Insider-Tipp, Aktuelles wird vermischt mit Historischem, v.a. die geschichtlichen Splitter und Anekdoten, persönliche Konfrontationen, über die Leute und ihre Spleens, etc. haben mir sehr gut gefallen. Man bekommt so eine Art Crash-Kurs, in der vieles beinhaltet ist, ohne zu sehr in die Tiefe zu gehen (was ja auch nicht möglich ist), aber sehr unterhaltsam!
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Re: Weidemann, Siggi: Gebrauchsanweisung für Brüssel und Fla

Beitragvon wolves » 26.07.2010, 08:19

Die "Gebrauchsanweisung für" Reihe kenne ich auch. Die ist wirklich gut gemacht. Ich habe die über Schottland.
Danke für deine Rezi, chip.
Liebe Grüße
wolves


Benutzeravatar
wolves
Buchgenießerin
Buchgenießerin
 
Beiträge: 6413
Registriert: 07.11.2006, 14:51
Wohnort: Saarland


TAGS

Zurück zu Fach- u. Sachbücher

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron