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Köhlmeier, Michael - Die Musterschüler




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Köhlmeier, Michael - Die Musterschüler

Beitragvon Karthause » 03.11.2011, 18:26

In einem katholischen Heim für männliche Gymnasiasten in Tirol herrschten Anfang der 1960er Jahre harte Sitten. Vor den Ferien mussten sich die Jungen Lateinprüfungen stellen und sich mit guten Noten die Heimfahrt verdienen. Vor den Ferien zu Allerheiligen 1963 fand diese Prüfung für Gebhard Malins Klasse als Folge eines Jungenstreichs gar nicht erst statt. Damit waren die freien Tage für alle gestrichen. Nach drei Wochen intensivstem Lateinstudium wurde die Prüfung nachgeholt. Der Präfekt und Lateinlehrer erwartete sehr gute Leistungen, die auch alle erzielten – außer Gebhard Malin, eigentlich ein sehr guter Lateinschüler, er bekam ein „Nicht genügend“ bescheinigt. Wieder wird vom Präfekten eine Kollektivstrafe verhängt, keine Heimreise bis zum Weihnachtsfest, kein Besuch, kein Essen in den nächsten zwei Tagen, die Jungen sollen beweisen, dass sie eine Gemeinschaft sind. Dann kommt von ihm noch die Aufforderung: „Züchtigt ihn!“
25 Jahre später werden die damals beteiligten Jungen von einem unbenannt bleibenden Erzähler zu dem Vorfall befragt. Keiner will mehr so recht wissen, was damals geschah, wer das Heft in die Hand nahm, die Schuld der Einzelnen ist verdrängt worden, das Erinnern fällt schwer und ist unangenehm.
Michael Köhlmeier ist für mich ein großer Erzähler. Seine Bücher sind schwer vergleichbar, gerade das mag ich an seinem Stil. Mit „Die Musterschüler“ habe ich eine wahre Herausforderung gefunden. Die Seiten flogen nicht so dahin beim Lesen. Ich musste mir das Buch erarbeiten. Mundgerecht war es wirklich nicht, aber trotzdem fand ich es beeindruckend. Köhlmeier erzählt die Geschichte nicht geradlinig, sondern eher verwinkelt und konstruiert. Er weicht immer wieder vom roten Faden ab und schiebt neue, aber auch bereits bekannte Episoden aus dem Schul- und Heimalltag ein. Die häufigen Wiederholungen, die mitunter auch nur um kleinste Informationen verändert wurden, lassen den Roman mitunter etwas zäh erscheinen. Besonders ist auch die Erzählform des Romans, der Autor schrieb ihn in Form eines Interviews. Fragen und Antworten wechselten sich ab. Erst ganz zum Schluss bekommt der Leser einen Hinweis darauf, wer der Fragende sein könnte. Aber worum geht es in diesem Roman? Es geht um Schuld, um die Schuld des Einzelnen, mehr jedoch um die Schuld der Gemeinschaft und es geht um die Verantwortung, die aus der Schuld heraus übernommen werden muss. Es geht aber auch um die Rolle von Außenseitern, die Gruppendynamik und die Schuld von Höherstehenden, in diesem Falle, die des Präfekten. Assoziationen zu Morton Rhue’s „Die Welle“ blieben dabei nicht aus.
Durch die Frage-Antwort-Situation kommt schnell ein Gefühl der Vertrautheit und Nähe zu den ehemaligen Schülern auf. Doch gibt es auch immer wieder Überraschungsmomente, die eine neue Sicht auf die Geschehnisse vor 25 Jahren erlauben.
„Die Musterschüler“ ist ein interessanter, überzeugend real wirkender und nachdenklich machender Roman, der stellenweise dem Leser einiges an Geduld abverlangt. Am Ende hat sich das Durchhalten dennoch gelohnt.

Über den Autor
(Quelle: amazon.de)
Michael Köhlmeier, geboren 1949, wuchs in Hohenems/Vorarlberg auf, wo er auch heute lebt. Für sein Werk wurde der österreichische Bestsellerautor unter anderem mit dem Man s-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Grimmelshausen-Preis ausgezeichnet.

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Re: Köhlmeier, Michael - Die Musterschüler

Beitragvon Susannah » 08.11.2011, 21:41

Deine Rezi hat mich dazu bewogen, gleich mit dem Buch zu beginnen. Ich habe es schon seit geraumer Zeit und ich weiß gar nicht, warum ich es noch nicht gelesen habe. Wo ich Köhlmeier doch so schätze und er mich noch nie enttäuscht hat.

Ich bin auf Seite 200 angelangt und schlichtweg begeistert. Die Art der Erzählung - diese Interviewmethode - finde ich sehr spannend, und - wie du schon sagst, Karthause - bekommt man ein großes Vertrautheitsgefühl zu den Schülern; respektive zu dem einen, der aus dem Heimalltag berichtet.

Der Stil erinnert mich ein wenig an Wolf Haas´ "Das Wetter vor 15 Jahren", das ja auch im Interviewstil geschrieben ist. (Sonst kann man die beiden Bücher freilich nicht miteinander vergleichen!)

Ich bin schon sehr gespannt, was da noch kommt und auch darauf, als wer sich der Interviewer entpuppt. Du schreibst ja, du hättest gegen Schluss eine Ahnung bekommen, wer es sein könnte.
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Re: Köhlmeier, Michael - Die Musterschüler

Beitragvon Karthause » 08.11.2011, 22:21

Das freut mich, dass dir das Buch gefällt. :thumleft:
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Re: Köhlmeier, Michael - Die Musterschüler

Beitragvon Susannah » 21.11.2011, 19:43

Inzwischen habe ich das Buch beendet. Meine Meinung hat sich nicht mehr großartig geändert, obwohl es zwischendurch schon ein paar Längen gab. Ich habe mir ein paar Mal gedacht, dass Herr Köhlmeier jetzt dann doch mal zur Sache kommen könnte, aber ich Nachhinein betrachtet ist nichts davon überflüssig.

Beim Enttarnen des Interviewers bin ich mir nicht sicher. Ich habe zwar eine Idee, aber ... hmmmmm ... ich weiß nicht...

Auf jeden Fall ein großartiges Buch, das sicher nicht nur Köhlmeier-Fans begeistern wird.

(Ich hab mir schon das nächste gekauft: "Das Sonntagskind", in dem er Märchen und Sagen aus Österreich nacherzählt.)
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