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Waters, Sarah - Little Stranger




Waters, Sarah - Little Stranger

Beitragvon marilu » 15.03.2010, 19:21

In "Little Stranger" entführt Sarah Waters ihre Leser in die 1940er Jahre. Im Mittelpunkt der Geschichte scheint die Landadelsfamilie Ayres zu stehen, doch schaut man genauer hin, ist es ihr Haus "Hundreds Hall", dass der alles dominierende Charakter ist.

Erzählt aus der Sicht des Dorfarztes Faraday wird man in eine Vergangenheit aus Luxus, Prunk und Partys geschmissen, um schnell von der nachkriegsgeschüttelten Gegenwart eingeholt zu werden. Faradays Mutter arbeitete einst als Kindermädchen in dem Herrenhaus und seine Erinnerungen sind geprägt von dem Neid auf dessen Bewohner, einem gewissen Stolz, (zugegebenermassen lockere) Verbindungen zu ihnen zu haben und seinem Eifer, ihnen nun behilflich zu sein.

Sowohl Haus als auch Bewohner haben unter den sozialen und politischen Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts gelitten - das Haus zu gross, wenig Einkünfte, zunehmende Nivellierung der Klasssengesellschaft, Lebensmittelrationierung und Identitätskrisen erschüttern das Wohlgefühl der gentry. Neben Caroline und Roderick Ayres leben nur noch ihre Mutter und ein Dienstmädchen unter dem verfallenden, zugigen und erdrückendem Dach. Gelegentlich schaut eine Putzfrau vorbei - aber man sollte sich nichts vormachen: die glorreichen Jahre sind vorbei. Roderick leidet zudem unter seinen Kriegserfahrungen und -verletzungen, die von Faraday behandelt werden und ihn bald zu einem Bestandteil des Haushalts machen. Wer "Was vom Tage uebrig blieb" von Kazuo Ishiguro gelesen hat, kennt einige dieser Themen bereits. Doch in dem Haus geschehen unheimliche Dinge, die Rodericks Geist letztendlich zerstören und ihm eingeben, dass ein Geist umgehe. Unerklärliche Brände, Stimmen, Schatten und Unfälle bestimmen bald das Dasein aller und beeinflussen Lebensentscheidungen.


Sarah Waters überrascht in jedem ihrer Romane mit aussergewoehnlichen Erzählstilen, Details und Plots. Sie ist so vielseitig, dass ich mich jedes mal wieder darauf freue, etwas Neues von ihr zu entdecken. Hier ging es mir ähnlich und ich dachte anfangs, dass es brilliant würde (stellte bereits gedankliche Vergleiche zu meinen heissgeliebten Barbara Vine und Kazuo Ishiguro an), doch dann verlor der Roman leider kurz nach der Mitte an Fahrt. Ich habe weitergelesen, weil ich schon so weit gekommen war, habe aber teilweise Seiten nur noch überflogen und war leicht enttäuscht. Im letzten Viertel greift sie jedoch nochmal tief in die Trickkiste und endet das Buch mit grossem Furore.

Alles in allem hat es sich für mich wirklich gelohnt. Die Geistergeschichte, über die viele Briten in ihren Blogs schwärmen, liess mich ziemlich kalt und überzeugte mich nicht wirklich, aber vielleicht hat gerade der Impuls den beschriebenen Aberglauben zu widerlegen, mehr zum Denken angeregt als ohne den Spuk. Da ich schon zweimal auf Ishiguro Bezug genommen habe, hier ein letzter Vergleich: beide Romane sind leise, scheinbar oberflächlich und für manche sicher langweilig. Das wahre Geschehen besteht in den nur angedeuteten Details, die in der Imagination wachsen und Beklemmung, Einsamkeit, Zerrissenheit und Hoffnungslosigkeit heraufbeschwören.

Caroline Ayres ist für mich eine genauso spannende Figur wie "Die Frauen von Londons" Kay. Stark, entschlossen, pragmatisch und doch weich, wenn sie die Chance dazu hat, sind diese beiden Frauenfiguren ganz nach meinem Geschmack. Faradays Rolle ist jedoch auch nicht zu unterschätzen und seine Ambiguität wesentlich komplizierter als anfaenglich zu ahnen ist. Einerseits stolz auf seine Verbindung zur "Upper Class" moechte er sie doch am Boden sehen. Gleichzeitig traeumt er davon, ihr anzugehoeren und stellt so einen überaus unzuverlaessigen Erzähler dar. Toll jedoch für potentielle Leserunden zu diesem Buch, die hier in den UK ueberall stattfinden zu scheinen. Spannend dazu zu googlen...

Definitiv ein Roman, der verschiedene Meinungen heraufbeschwört, aber mein Fazit muss sein:
:stern: :stern: :stern: :stern:

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(Noch nicht auf Deutsch erhältlich.)
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