Die Welt des Gelehrten Peter Kien ist die Wissenschaft, die Bibliothek ist ihr Zentrum. Eine kleine, geschlossene Welt, in der alle Vorgänge peinlich und diszipliniert ablaufen. Ein Mikrokosmos, wo Bücher als der einzige soziale Kontakt fungieren. Kiens Handlungen und Gedanken rotieren in dieser isolierten Zelle, die keinen Weg nach außen finden. Ebenso können äußere Strömungen nicht ungefiltert hineingelangen, ohne gleich mit der beschränkten wissenschaftlichen Denkart Kiens in Berührung zu kommen. Auswirkung dieses Systems sind Missverständnisse, Zweideutigkeiten, Einbildungen, Selbsttäuschungen … sind Blendwerk.
Kiens Unglück beginnt, als ein Fremdkörper in seine Welt gelangt. Durch ein Missverständnis heiratet Kien seine Haushälterin Therese, sie zieht bei ihm ein. Eine ungebildete, unattraktive Frau, die wiederum ihre Interessen verteidigt. Ihre gesellschaftliche Stellung liegt im Blickpunkt, sichert sich nach und nach ihren Freiraum durch den Einkauf von Möbel, sie erweitert ihr Territorium, bis Kien gänzlich aus der Wohnung verdrängt wird. Auch das Geld, Kiens Geld, soll zur Absicherung des Wohlstandes dienen. Materielle Gier gegen geistige Wissenschaft, ein unausgewogener Kampf, zwei gegensätzliche Welten, die hier aufeinander prallen.
Heimatlos irrt Kien verloren durch die Straßen der Stadt und wird dort mit der Masse konfrontiert, die von einem ihnen innewohnenden verankerten Grundgedanken getrieben sind. Eine Horde gescheuchter Menschen, die mit Tunnelblick zielstrebig ihrem eigenen Interessensgebiet entgegensteuern, ohne Hemmung, auf kriminelle Methoden zurückzugreifen. Der Irrsinn ist allgegenwärtig, zügellos unterspült er die Straßen. Individuen in kleine isolierte Hüllen gepackt, zur Kommunikation unfähig, Einzeller ohne Verständnis für seinen Nächsten. Jede einzelne Figur lebt rein egoistisch für ihre Bedürfnisse, will bei jeder Äußerung sogleich eine Bedrohung seiner Begierden erkennen. Sie sind unfähig, als Gemeinschaft zu existieren. Der Wahn greift um sich, und so muss auch der realitätsferne Kien an der Wirklichkeit scheitern.
Canetti stellt die Menschheit bloß, indem er mittels skurriler Episoden die Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Agierens aufdeckt. Das sprachliche Unvermögen wird mit leicht überzeichneten Darstellungen und Dialogen veranschaulicht Die eigentliche Leistung Canettis aber ist die sprachliche Gewalt, seine meisterhaften Wortspielereien und die Vorführung des wahnfiebrigen Anstiegs durch abgehackte Sätze.
Ich gebe zu, das vorliegende Buch ist trotz einfachem Satzbau nicht immer eine einfache Angelegenheit. Doch wie meinte ein Rezensent schon vor mir: "Dieses Buch ist wie ein Drache, den man besiegen muss, um an seinen Kleinod zu gelangen."
Die erste französische Ausgabe wurde mit „La Tour de Babel“ betitelt.
In der Bibel wird das Turmbau-Vorhaben als Versuch der Menschheit gewertet, Gott gleichzukommen. Wegen dieser Selbstüberhebung straft Gott die Völker, die zuvor eine gemeinsame Sprache hatten, mit Sprachverwirrung und zerstreut sie über die ganze Erde.
Babel = Geplapper (hebr.) (Quelle: Wikipedia)