Ich habe nun das Buch ausgelesen und will noch meine Eindrücke festhalten.
Ja, dieses Buch ist sicherlich was Besonderes und ich habe kaum was Vergleichbares gelesen. Also ein ausdrückliches Danke an Alixe für diese Empfehlung und Entdeckung!!!
Zum Buch selbst, zur Schreibe, sei noch ausdrücklich gesagt – was ja durch die Zitate von Alixe schon klar wurde – dass es sich um eine in Ich-Form gehaltene Erzählung handelt. Die Sprache – ist sie für uns auch nur durch die Übersetzung zu genießen – ist gut. Eventuell wird das Wort „Egoismus“ nicht richtig übersetzt? Im Kontext dachte ich an andere Wörter... Die Geschichte sehr eindringlich. Wie könnte man oberflächlich oder gelangweilt darüber hinweg lesen?
Alixe gab schon eine Inhaltsangabe. Mir fiel u.a. Folgendes auf:
Die Kindheit des kleinen Gyuri erscheint in seinen Worten in weiten Teilen als wahrer Albtraum: Angstbilder, erfahrene Strenge, Lieblosigkeit, Instrumentalisierung... Es erscheint so, dass hier ein Kind quasi erzählt und sprachlich haut das auch oft hin. Doch zur selben Zeit ist es eben der Erwachsene Azarel/Pap, der hier das Erleben des Kindes erzählt und kommentiert, und das schafft meines Erachtens eine Sicht auf die Dinge, die manchmal etwas seltsam und verschoben anmutet, da sie nicht die des Kindes selbst ist, sondern wie von hinten (oder vorne) aufgerollt. Mir erscheint dann, dass es nicht nur einfach eine Schilderung ist, sondern schon eine Analyse. Und wenn wir beim Wort Analyse sind: ja, dieses Buch analysiert das Erleben von Druck, Gewalt etc und scheint einen „Glauben“, eine Religion als Folgen einer Verinnerlichung von Gewalt, Angst etc. zu verstehen. Die verschiedensten Aspekte des menschlichen Wachstums werden hier angesprochen, allerdings alle aus der Sicht eines zutiefst verschüchterten, verängstigten, später revoltierenden, phantasierenden Kindes. Sehr gut werden Übergänge beschrieben und beobachtet! Da wird fast schon ein psychologisches Feingefühl des Autors deutlich! Da wird oft ein Thema sehr gut ausgearbeitet und kreisend mehrmals wieder aufgenommen. Besonders gelungen fand ich z.B. den Mangel der „belebten, phantasievollen Welt“, wo das Kind wirklich zum Sprechen kommt: die Dinge sprechen nicht zu uns und haben keinen Zauber!
Jedoch KANN dies manchmal zu thesenhaft werden: worauf will Pap mit seinem nicht verhüllten Engagement hinaus?
So unterschiedlich der Großvater und sein Sohn, der Rabbi auch sind (sie stellen den Konflikt zwischen orthodoxem und assimiliertem Judentum dar), so werden sie doch recht eindeutig als Vertreter einer toten Religion vorgestellt. Alles wird hier im kindlichen Empfinden scheinbar auseinander genommen: gewisse (biblische) Texte werden in ihrer Widersprüchlichkeit oder anscheinenden Absurdität vorgestellt; die Beweggründe des Opas mögen noch vage von einer „Sehnsucht“ echten Ursprungs angefacht sein, doch sind irgendwie verneinend, vernichtend; der Vater und die Mutter stehen doch weitestgehend als Heuchler da, denen es um Geld, Ansehen, Macht geht etc.
Ein Schlüssel zum Verstehen Gyuris ist die (universale) Sehnsucht nach der unentgeltlichen, nicht bedingten Liebe „um seiner selbst willen“, nicht als Zweck, als Mittel oder Spiegel seiner Selbst. Er erlebt dies nicht: alles wird ihm zum Vorwurf, zur Erniedrigung. Schon lange vor den körperlichen Schlägen empfindet er sich als Ausgestoßener und Außenseiter in seiner eigenen Familie. Insofern ist Gyuri in seiner Suche und seinem Leiden ein Bild für das Absolute. Er drückt dies selber sogar wortwörtlich aus, dass er auf der „Suche nach der vollkommenen und bedingungslosen Zuneigung“ ist. Wenn am Ende dieses Buches nach einer Zeit als Bettler eine Art Rückkehr ins Haus bevorsteht, so ist das nicht eine Art wirklicher Zustimmung, sondern eher eine erzwungene Verinnerlichung der Stimme des Vaters, der Autorität. Der anscheinende Friede am Ende erscheint als Verleugnung und dauernde Vertuschung eventueller Sorgen, Fragen, Probleme. Feigheit, Angst, Vergessen und Krankheit scheinen die erwünschten Umgehensweisen mit den absoluten Fragen zu sein.
Um ein kleines Urteil zu den „Thesen“ des Buches zu geben:
Zunächst mal gibt es kein „Aber, aber, wie kann Pap so scheinbar blasphemisch schreiben“. Nein, Menschen haben Religion oft so erfahren und vermittelt bekommen. Zweifelsohne deckt Pap mit seinen sehr guten psychologischen Analysen ein weites Spektrum von „geistigen Pathologien“ auf. Man hört förmlich den Wunsch nach einer unentgeltlichen Liebe. In dieser (universalen) Suche nach dem Absoluten kann Pap auch als Sprecher einer Grunderfahrung gerade des jüdischen Volkes verstanden werden! Doch da ist die Gegenerfahrung einer Religionszugehörigkeit, die auch rein gar nichts mehr mit etwas wirklich Lebendigem zu tun haben scheint. Juden, Christen, wie wohl Angehöriger jeder Religion müssen sich fragen lassen, wann und wo irgendwelche Gesetze sich verselbständigt haben oder aber der Mensch aus den Augen geraten ist. Deutlicher denn je müsste man dem entgegenstellen, dass man sich einerseits kein Bildnis von Gott machen sollte, bzw. andererseits dieser Gott nicht die schreckliche strafende Figur ist, die anscheinend immer noch durch die Köpfe schwirrt. Und natürlich wird die persönliche Erfahrung eines Gyuri und die Analyse Paps nicht allen Erfahrungen gerecht, die Menschen AUCH mit einem wahrhaft befreienden und lebendigen Glauben gemacht haben.