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Hilsenrath, Edgar - Das Märchen vom letzten Gedanken




Hilsenrath, Edgar - Das Märchen vom letzten Gedanken

Beitragvon Krümel » 10.01.2007, 13:03

Das Märchen vom letzten Gedanken von Edgar Hilsenrath

Über das Produkt (von Amazon kopiert)
Wie in einem orientalischen Märchen erzählt Edgar Hilsenrath in diesem großen historischen Epos vom Leidensweg und der Vernichtung des armenischen Volkes durch die Türken im ersten Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts. Der letzte Gedanke eines Menschen, so heißt es im Märchen, stehe außerhalb der Zeit. In Hilsenraths Epos über den ersten und bis heute wenig bekannten Völkermord des letzten Jahrhunderts an den Armeniern sitzt der letzte Gedanke des Thovma Khatisian auf dem Stadttor der anatolischen Stadt Bakir und durchlebt noch einmal den Leidensweg des armenischen Volkes, das jahrhundertelang im Kampf um sein geteiltes Land und seine Autonomie immer wieder unterlag.
Als letzter Sproß seiner Familie folgt der Gedanke Thovmas, geleitet von dem Märchenerzähler Meddah, den Lebensspuren des Vaters, die aus einem kleinen idyllischen Bergdorf in die Folterkammern der türkischen Machthaber führen, und wird Zeuge jenes großen Armenierpogroms 1915, mit dem die Regierung in Konstantinopel das armenische Volk endgültig auszulöschen versuchte. Mit den Mitteln eines orientalischen Märchens, aus Überlieferungen, Sagen und Legenden dieser gepeinigten Nation schöpfend, greift Hilsenrath weit zurück in die armenische Geschichte und stimmt eine berührende Totenklage um die Opfer aller Völkermorde an. Ein grausames Buch und dennoch ein Buch der Liebe, des Glaubens und der Wunder.


Meine Meinung:

Das Buch beginnt mit einem Dialog, oder eher gesagt Monolog, denn der Märchenerzähler, Meddah, steckt im Kopf des „Protagonisten“. Überhaupt wird das ganze Werk mehr oder weniger im Dialog vorgetragen, und diese Ausführung hat mir sehr gut gefallen, denn erstens steckt man direkt mitten in der Handlung, und zweitens wird durch diese Dialogform die Handlung abgemildert, das Grausame etwas verpackt.
Auch die Mentalität der Türken, zunächst einmal alles lange zu debattieren, bevor man handelt, wird dadurch gut transportiert.

Die Sprache ist wunderbar poetisch, märchenhaft, obwohl Hilsenrath viele derbe Wörter verwendet, und schonungslos Brutalität offen legt.

Die Thematik vom Buch finde ich absolut schreibwürdig, und ich bewundere den Mut des Autors über dieses gewagte Thema so offen zu schreiben. Bis zum heutigen Tag ist es eigentlich ein Tabuthema, was erst vor kurzen wieder Schlagzeilen machte. Nicht dass ich jetzt den Türken irgendwelche Vorwurfe machen würde, denn ich weiß nicht ob sich das überhaupt für eine Deutsche schickt. Die Frage nach der Schuld, wo dieser Völkermord noch länger zurückliegt, erübrigt sich eigentlich, aber er sollte offen und ehrlich in den Geschichtsbüchern verzeichnet sein. Nur ein Volk, welches sich mit dieser Thematik auseinandersetzt hat und dazu steht, kann meiner Meinung nach für eine bessere Zukunft Verantwortung tragen.

Das Buch ist sehr aktuell, wenn man bedenkt, dass die Türkei in die europäische Union aufgenommen werden möchte. Bisher war ich für diese Aufnahme, doch nach der Lektüre habe ich da meine Bedenken.

Fazit: Ein grandioses Buch, eine absolute Empfehlung, sprachlich ein Meisterwerk und von der Thematik uneingeschränkt lesenswert.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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( PS Im Blog findet ihr eine andere Rezi :wink: )
BildLiebe Grüße,
Krümel



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von Anzeige » 10.01.2007, 13:03

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Beitragvon Susannah » 10.01.2007, 16:49

:clap: Tolle Rezi, Krümel, vielen Dank!

Ich bekomme richtig Lust, das Buch nochmal zu lesen, weil es in der Tat sehr interessant und lehrreich ist.
Susannah
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Beitragvon Pippilotta » 10.01.2007, 18:38

Ich habe mich - ehrlich gesagt - mit der Thematik noch nie näher auseinandergesetzt. Man liest zwar täglich in der Zeitung über diese Differenzen im Baltikum, doch von Hintergründen, Ursachen oder geschichtlichen Fakten weiß ich viel zu wenig.

Es freut mich zu lesen, dass Dir das Buch dann doch mehr zugesagt hat, als es zu Beginn den Anschein hatte.
Ich werde es mir mal notieren!
Herzliche Grüße
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Beitragvon Krümel » 10.01.2007, 18:54

Susannah hat geschrieben::clap: Tolle Rezi, Krümel, vielen Dank!

Ich bekomme richtig Lust, das Buch nochmal zu lesen, weil es in der Tat sehr interessant und lehrreich ist.


:danke: Susannah
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Krümel



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Re: Hilsenrath, Edgar - Das Märchen vom letzten Gedanken

Beitragvon Pippilotta » 11.01.2007, 06:19

Krümel hat geschrieben:( PS Im Blog findet ihr eine andere Rezi :wink: )


die übrigens sehr informativ und lesenswert ist! :D
Herzliche Grüße
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Beitragvon marilu » 11.01.2007, 06:50

Ich finde auch, dass man durch beide Rezensionen einen tollen Eindruck bekommt. Die Rezi im Blog ist wirklich kreativ! :thumleft:

Allerdings werde ich den Einstieg mit "Der Nazi und der Frisör" machen und dann mal schauen, ob ich mit dem Zynismus klarkomme.
Scharfsinnig bin ich von Montag bis Freitag. Übers Wochenende leiste ich mir den Luxus der Dummheit.
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Beitragvon Krümel » 11.01.2007, 12:10

Danke ihr Lieben, das freut mich sehr, denn ich war mal wieder sehr unsicher ob man so eine Rezi schreiben kann :roll:

@ marilu

Vielleicht können wir das sogar zusammen lesen, denn ich würde gerne noch "Der Nazi und der Frisör" von Hilsenrath lesen, allerdings brauche ich jetzt erst einmal ein paar Monate Abstand. So schwere Kost sollte man nicht nacheinander lesen :idea:
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Beitragvon Voltaire » 11.01.2007, 12:55

Hi Krümel.
aufgrund deiner Rezi habe ich dann auch dieses Buch soeben bestellt.

"Kost ja nix un wi hebbt da ja oak." :D Das würde Bauer Piepenbrink jetzt dazu sagen.

Hilsenrath ist ein leider viel zu wenig gelesener Schriftsteller. Erwähnt man mal seinen Namen, erntet man oft nur ein "Hääähh?".

Ach ja, Klasse Rezi! :thumleft:
Voltaire
 



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