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Lessing, Doris - Das goldene Notizbuch




Lessing, Doris - Das goldene Notizbuch

Beitragvon Krümel » 23.02.2008, 12:34

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Viel mehr als nur ein feministisches Werk!

Aber hier stößt der Laie an seine Grenzen eine wirklich vernünftige Buchrezension zu schreiben. Denn alleine der Versuch einer Inhaltsangabe sollte man schon tunlichst vermeiden, da die Analyse des Romans, also die Mosaikteile zusammenführen, die Aufgabe jedes Lesers ist. Grundsätzlich sollte man in einer Rezension nichts vorwegnehmen, was den Lesegenuss mindern könnte!

Das Buch ist eine Zerstückelung eines Menschen, hier die Protagonistin Anna Wulf, in seine verschiedenen Rollen bzw. Gefühlswelten. Und somit hat mich dieser Roman sehr an den “Steppenwolf” erinnert.

Doris Lessing schreibt über den Kommunismus in den 50 er. Berichtet darüber wie die humanistische Welle von Russland geprägt sich in der Welt (Afrika, England und Amerika) ausbreitet. Wie Idealisten außerhalb Russlands einen Kommunismus prägen wollen, und wie die kommunistische Partei gespalten wird in Stalinanhänger und Antistalinisten. Wie eine kleine Gruppe versucht diese Utopie in Form eines demokratischen Kommunismus aufzubauen. Diese Menschen scheitern, oder stehen als Verräter da, und sind innerlich tief verletzt.

Fälschlicherweise hatte ich im Tagebuch “unabhängige Frauen” geschrieben, was ich dann aber korrigieren musste, denn es sind “ungebundene Frauen”, die sehr stark abhängig sind, und zwar vom männlichen Geschlecht. Die beiden Freundinnen sind allein erziehende Mütter, und wünschen sich nichts mehr als einen Mann an ihrer Seite mit dem sie glücklich werden können. Doch durch diese starke Sehnsucht geraten sie immer wieder an die falschen Kerle, werden ausgenutzt, angespuckt und als Fußabtreter benutzt. ABER sie stehen immer wieder auf, werfen die falschen Mannsbilder hinaus und versuchen es aufs Neue. Das ist schon sehr modern für diese Zeit.

Ein weiteres Thema ist die Psychoanalyse, in welcher der Patient bewusst zergliedert wird, alle menschlichen Aspekte begutachtet werden, um dann später wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt zu werden. Und so ist auch das ganze Buch aufgebaut. Anna besitzt vier Notizbücher in denen sie sich selber aufspaltet. “Das goldene Notizbuch” und auch der Rest des “blauen Notizbuches” spiegeln mir dann das “magische Theater” von Hesse wieder. Wo es zur absoluten Zergliederung, zu einem Schritt vor dem Wahnsinn oder zur eigentlichen Auflösung kommt.

Der Leser beginnt von der ersten Seite an seine Analyse, eine Zusammensetzung, zu ziehen. Durch den logischen Verstand, und da von außerhalb, fällt ihm dies nicht schwer. Für ihn ist Anna Wulf eine Person, und das Buch, ein Buch.

Noch ein Leitmotiv ist die Schreibblockade eines Schriftstellers, wodurch dieses ganze “Durcheinander” erst entsteht.

Alles im Allem ein sehr interessantes Buch, welches immer zum Nachdenken anregt, immer noch sehr aktuell ist, lesenswert und hervorragend! Aber es ist kein Buch für zwischendurch, hier muss man wirklich Zeit mitbringen, und sich dieser Thematik stellen können.

Hoffmann und Campe Verlag, 2007,
OT: The golden Notebook,
Übersetzung: Iris Wagner,
Hardcover 14,95 €, 847 Seiten,
ISBN: 978-3-455-40113-4

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: (:stern:)
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von Anzeige » 23.02.2008, 12:34

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Beitragvon tom » 23.02.2008, 13:00

Das hoert sich sehr interesant an und Frau Lessing wollte ich gerne mal einen Platz einraeumen...

Danke, Kruemel, fuer die interessante Rezi!
tom
 

Beitragvon Krümel » 23.02.2008, 13:53

Hi, ebenso danke :D
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Dieses Buch - ein Muss?

Beitragvon Gast Heinrich » 14.08.2008, 07:02

Dieses Buch legt man mit dem Gefühl aus der Hand, etwas wirklich Aufregendes und Großartiges gelesen zu haben. Und dieser Eindruck verflüchtigt sich auch nicht. Doris Lessing hat wirklich ein nachhaltig wirkendes Buch geschrieben. Und nicht nur das; es ist darüber hinaus ein eminent wichtiges Buch, geeignet als Pflichtlektüre für alle die ins Leben eintreten, die am Leben vielleicht verzweifeln und die im Leben mit ihrer Rolle nicht klarkommen. Egal ob nun Frau oder Mann.

Worum geht es nun in diesem Roman?
Die Schriftstellerin Anna führt vier Notizbüchern in verschiedenen Farben, weil sie, wie sie erkennt, die Dinge voneinander getrennt halten muss, aus Furcht vor dem Chaos, vor Formlosigkeit – vor dem Zusammenbruch. Ihnen wird schließlich ein Ende gesetzt, und es entsteht etwas Neues: das goldene Notizbuch.

In diesem Roman wird deutlich, wie verschieden doch Frauen und Männer sind, gerade auch in ihrem sexuellen Verhalten. Wo Frauen zwischen Liebe und Sexualität nicht trennen können, fällt es Männer überhaupt nicht schwer gerade diesen Weg zu gehen. Dieses unterschiedliche Verhalten beschreibt Doris Lessing ohne Schuldzuweisungen, sondern eben nur als bestehende Tatsache. Sie wertet nicht, sie beobachtet, sie notiert.

Man bezeichnet dieses Buch auch als Hauptwerk von Doris Lessing. Doch man würde ihr Unrecht tun, wenn man sie auf dieses – zugegebenermaßen großartige Buch – reduzieren würde. Doris Lessing ist dermaßen vielschichtig in ihrem Werk, dass man sie kaum in eine bestimmte Schublade einordnen kann.

Doris Lessing macht im GOLDEN NOTIZBUCH deutlich, dass weder die gesellschaftlichen Gruppen der Frauen und der Männer eine homogene Masse sind. Beide Gruppen sind pausenlos irgendwelchen Veränderungen in ihren Aussagen, ihrem Auftreten und ihrer Zusammensetzung unterworfen. Insofern macht es wenig Sinn, hier mit radikalem Feminismus ala Meulenbeult draufzuhauen und Männer allein schon deshalb zu verachten weil es Männer sind. Doris Lessing differenziert und sieht eben auch die Männer durchaus als Opfer der gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine Opferrolle allein aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Geschlechtsgruppe sieht sie nicht. Doris Lessing erteilt gerade dem Radikalfeminismus eine grandiose Abfuhr (auch wenn dieser Begriff eigentlich erst 1978 durch Mary Daly geprägt wurde) und macht deutlich, dass gerade diese feministische Spielart ziemlicher Unsinn ist. Nichtsdestotrotz kämpft sie einen harten Kampf – gerade auch in ihren Büchern – für die Gleichberechtigung von Frau und Mann, wobei ihr die geschlechterspezifische Gleichberechtigung nicht einmal das erste Anliegen ist; ihr geht es in erster Linie um die Beseitigung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Sie ist nicht in erster Linie eine „frauenpolitische“ sondern eine „politische“ Schriftstellerin. Moderat im Ton aber konsequent in der Sache, so stellt sich Doris Lessing auch in diesem Buch dar. Obwohl, und das fällt schon ein wenig auf, sie in ihren „Martha-Quest-Büchern“ radikaler und auch „sozialistischer“ schrieb. Man ahnt im GOLDEN NOTIZBUCH natürlich etwas von ihrer eigenen kommunistischen Vergangenheit, und sicher trägt die Person der Anna gerade auch in dieser Hinsicht autobiographische Züge, aber es fehlt hier ganz einfach die „politische Strenge“ die wir eben gerade auch in ihren „Martha-Quest-Büchern“ finden, die einen ungleich höheren politischen Stellenwert haben, sei es in den Bereichen Gleichberechtigung der Frau, Aufhebung der Apartheid und allgemeine gesellschaftliche Ungerechtigkeiten.

Mit dem GOLDEN NOTIZBUCH ist Doris Lessing in jedem Fall ein literarisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts gelungen. Tabus kennt sie nicht. Sie nennt die Dinge beim Namen, aber bleibt dabei immer einfühlsam und gerade diese Sensibilität ist es, die dieses Buch zu einem wirklichem „Flaggschiff der Frauenbewegung“ macht. Dabei hat sie den frauenpolitischen Aspekt ihres Buches immer wieder nur als ein Aspekt unter vielen Aspekten angesehen. Sie hat dieses Buch als Sozialistin, nicht aber als Feministin geschrieben.

In einem Interview mit der NEW YORK TIMES im Jahre 1982 distanzierte sich Doris Lessing von der Sichtweise vieler ZeitgenossInnen, die ihren Roman „DAS GOLDENE NOTIZBUCH“ als einen Klassiker des Feminismus meinten sehen zu müssen:

„Die Feministinnen verlangen von mir einen religiösen Akt, den sie nicht genauer untersucht haben. Sie wollen, dass ich Zeugnis ablege. Am liebsten möchten sie, dass ich sage: Ich stehe auf Eurer Seite, Schwestern, in Eurem Kampf für den goldenen Tag, an dem all die brutalen Männer verschwunden sind. Wollen sie wirklich, dass man allzu vereinfachende Aussagen über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen macht? Genau das wollen sie. Mit großem Bedauern bin ich zu diesem Schluss gelangt.“

Gerade auch mit dieser Aussage wendet sich Doris Lessing klar gegen den Feminismus wie er beispielsweise auch von Simone de Beauvoir (Das andere Geschlecht) beschrieben wurde.

Doris Lessing wurde 1919 im Iran geboren. 2007 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. Ihr Vater war britischer Kolonialoffizier, ihre Mutter Krankenschwester. 1925 zog ihre Familie in die damalige britische Kolonie Südrhodesien. Im Jahre 1939 heiratete sie, die Ehe wurde aber bereits 1943 wieder geschieden. In zweiter Ehe heiratete 1945 sie den Deutschen Gottfried Lessing, mit dem sie auch nach ihrer Scheidung im Jahre 1949 zusammen blieb.

Viele haben dieses Buch sicher schon gelesen – aber dieser Roman ist es ganz sicher wert auch ein weiteres, oder vielleicht sogar ein drittes Mal gelesen zu werden.



Ein paar Literaturhinweise zum Thema Feminismus:

Anja Meulenbeult
Die Scham ist vorbei

Verlag Frauenoffensive – Preis 6.00 EUR
ISBN-10: 3881040447

Andrea Trumann
Feministische Theorie

Schmetterling Verlag – Preis 10.00 EUR
ISBN-10: 3896575805

Jutta Menschik
Feminismus. Geschichte, Theorie, Praxis

Pahl Rugenstein Verlag – Preis ab 0.01 EUR bei Amazon Marketplace
ISBN-10: 376090288X

Simone de Beauvoir
Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau

Rowohlt – 12.95 EUR
ISBN-10: 3499227851
Gast Heinrich
 



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