Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

O'Brien, Flann - Der dritte Polizist




O'Brien, Flann - Der dritte Polizist

Beitragvon chip » 19.12.2009, 02:52

Die Schriften des Wissenschaftlers und Theoretikers de Selby beanspruchen Muße und Aufmerksamkeit, die unserem Ich-Erzähler über Jahre davon abhalten, sein Zimmer zu verlassen. Er überträgt die Verwaltung seines ererbten Anwesens dem ungehobelten Divney. Weil Letzterer bei der Instandhaltung schlampig haushält, beschließen Beide, einem wohlhabenden Zeitgenossen durch einen Raubmord um dessen Geldkassette zu erleichtern. Nach dreijährigem gegenseitigem Misstrauen wollen sie endlich die Beute teilen. Der Erzähler wird in das Haus des Ermordeten geführt und … was dort passiert, kann an dieser Stelle nicht verraten werden, denn als er das Anwesen wieder verlässt, kann er sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern.

Die Geschichte erinnert an Alice im Wunderland, wo ihr nach dem langen Fall langsam dämmert, in eine verdrehte Welt gelandet zu sein. Die nachfolgenden Kapitel sind absurdes Theater à la Beckett, eine auf naturwissenschaftlichen Theorien basierende Konstruktion einer Welt, die eine neue Logik aufdeckt und erfordert. Der unglücklich gestrandete Held stützt sich bei seinen Beobachtungen auf seine Studien zu de Selby. Sie helfen zu begreifen, zumindest dem Leser. In ausführlichen Fußnoten definiert de Selby den Schlaf als eine Folge von Ohnmachtsanfällen, die Nacht als Verschmutzung der Atmosphäre und die Besessenheit zu Spiegeln führen zu der Behauptung, die Welt befinde sich eingeengt zwischen hölzernen Rahmen. Als Leser fragt man sich, ob es diesen Theoretiker wirklich gab, weil die Fußnoten sehr überzeugend zu Sekundärliteratur hinweisen, wo Zitate in Originalsprache wiedergegeben werden und wo selbst Streitgespräche unter Intellektuellen vermerkt sind - meist mit dem Hinweis angereichert, dass angegebene Manuskripte und Beweismittel nicht mehr aufzutreiben sind. Man kann sie als Verständnishilfe zum übrigen Text begreifen oder als wahnwitzige Satire auf den Wissenschaftsbetrieb.

(4) Natürlich wird keine Erklärung darüber gegeben, was mit dem „Missbrauch“ von Wasser gemeint ist, es ist aber zu beachten, dass der Weise mehrere Monate mit dem Versuch verbrachte, eine zufrieden stellende Methode zum „Verdünnen“ von Wasser zu finden, da er fand, es sei „zu stark“, um für die zahlreichen neuen Zwecke benutzt zu werden, die er ihm zugedacht hatte. Bassett deutet an, dass der Wasserkasten nach de Selby mit diesem Ziel erfunden worden sei, kann aber nicht erklären, wie der delikate Mechanismus gehandhabt wird.

Der gesamte Roman befindet sich auf einer abstrakten, schwebenden Ebene, die weder Realität noch Traum zu sein scheint. Eine Parallelwelt vielleicht, ein Bestrafungsritual für Verbrecher, Verdammung bis in Ewigkeit. Da ist von der Atomtheorie die Rede, bei der sich die Atome von Gegenständen bei kräftigen Erschütterungen vermischen. Ein Polizist auf seinem Fahrrad wird mit den Berufsjahren selbst zum Fahrrad - stützt sein Ellbogen gegen die Wand, um Halt zu finden, während das Fahrrad sich vermenschlicht und eingesperrt werden muss, damit es nicht verschwindet. Oder er berichtet von Handarbeiten des Polizisten, die nicht mehr im Bereich des Sichtbaren liegen.

Ich werde ihnen ein Geheimnis mitteilen“ sagte er sehr vertraulich mit leiser Stimme. ‚Mein Urgroßvater war dreiundachtzig, als er starb. Vor seinem Tode war er ein Jahr lang ein Pferd gewesen!’
‚Ein Pferd?’
‚Ein Pferd, und zwar in allem außer den äußerlichen Externalitäten. Er verbrachte seine Tage grasend auf der Wiese oder im Stall und fraß Heu. Meist war er still und faul, aber hin und wieder brach er in einen schnittigen Galopp aus und setzte stilvoll über eine Hecke.’


Die einzig rationell agierende Figur ist die reflektierende Seele des Erzählers. Dennoch führt kein Ausweg aus diesem verschachtelten Labyrinth heraus, denn ohne Name existiert er nicht, ohne Verständnis findet er keinen Halt in dieser Umgebung. Und er bleibt auf der Flucht vor seiner Verurteilung, auf ewig. Ein großer Spaß, dieses Buch zu lesen, wenn man sich auf in sich schlüssige, letzten Endes doch haltlose Thesen einlassen will.
:stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

Bild
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

von Anzeige » 19.12.2009, 02:52

Anzeige
 

Beitragvon wolves » 19.12.2009, 11:17

Ich war schon ziemlich auf deinen Eindruck gespannt, chip. Noch ein Buch mehr auf meiner "unendlich" Wunschliste. 8)
Liebe Grüße
wolves


Benutzeravatar
wolves
Buchgenießerin
Buchgenießerin
 
Beiträge: 6413
Registriert: 07.11.2006, 14:51
Wohnort: Saarland



Ähnliche Beiträge


Zurück zu Weltliteratur/Klassiker

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron