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Oe, Kenzaburo - Eine persönliche Erfahrung




Oe, Kenzaburo - Eine persönliche Erfahrung

Beitragvon Pippilotta » 29.07.2007, 18:45

[center]Kenzaburo Oe - Eine persönliche Erfahrung [/center]

Während seine Frau in den Wehen liegt, irrt Bird, ein junger Mann Mitte 20, durch die Stadt. Er kämpft mit der Befürchtung, dass mit der Geburt eines Kindes seine Jugend nun endgültig vorbei ist und sein Traum, nach Afrika zu reisen, in unerreichbare Ferne rückt. Der Griff zur Whiskeyflasche erscheint ihm sehr verlockend, doch er hatte dem Alkohol abgeschworen.

Seine Befürchtungen verhärten sich, als er erfährt, dass sein Sohn mit einer schweren Missbildung des Gehirnes geboren wurde. Unfähig, sich mit diesem Schicksal auseinanderzusetzen, völlig überfordert und erfüllt von Gefühlen der Scham, beginnt für Bird eine Flucht vor den Tatsachen. Er gibt sich dem Alkohol hin, beginnt eine heiße Affäre mit einer früheren Freundin und wartet auf den Anruf des Krankenhauses, das ihm den Tod des Kindes mitteilt und ihn so aus diesem Alptraum befreien soll.

Beeindruckend wird die Entwicklung des anfangs unreifen, völlig überforderten Bird geschildert. Seine Gedankengänge werden schonungslos, fernab von moralischen und ethischen Grundsätzen, aber dennoch sehr nachvollziehbar, dargelegt. Unfähig, Verantwortung zu übernehmen, unterstützt von den unglaublichen Aussagen der Ärzte, die das Baby als „Ding“ bezeichnen und sich schon auf die Autopsie freuen, versucht Bird zu entfliehen. Der Leser begleitet ihn auf diesem Ego-Trip, denn er sieht nur sein Leben betroffen, sieht seine Zukunft in Scherben. Er verliert kaum einen Gedanken daran, wie es seiner Frau geht und schon gar nicht, dass vielleicht der arme Wurm seine Unterstützung braucht.

Ich möchte das Verhalten des Bird nicht werten, es fällt mir aber schwer, Verständnis für ihn aufzubringen, da Menschen, die sich vor Verantwortung drücken, den Egoismus nicht zurückstellen können und jeder Schwierigkeit aus dem Weg gehen, nicht meine Sache sind. Es ist aber eine Sache, eine solche Situation als Außenstehender zu betrachten und eine andere, selbst betroffen zu sein. Es ist mir aber bewusst dass es keine Selbstverständlichkeit ist, gesunde Kinder zu haben.
Oe beschreibt dieses Buch als autobiografisch, er erzählt schonungslos und bricht mit Tabus, ich finde dieses Buch mutig und ehrlich.

Ein sehr interessantes Interview mit Kenzaburo Oe über dieses Buch und über seinen Sohn gibt es hier

:stern: :stern: :stern: :stern:

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Beitragvon Krümel » 29.07.2007, 19:16

Das hört sich nach einem sehr bewegenden Buch an, Pippi. Ich habe es auf meine Wunschliste aufgenommen :thumleft:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon Karthause » 29.07.2007, 19:45

Das Buch hört sich wirklich mehr als interessant an. Als ich deine ersten Eindrücke gelesen habe, kam es auf den Wunschzettel. Nun ist meine Bestellung bei Amazon-Marketplace raus. Ich bin schon sehr gespannt.
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon tom » 29.07.2007, 21:20

Danke für die Rezi, Pippi! :thumright:
Ich kann da zum Lesen nur ermuntern, ich selber finde dieses Buch hervorragend. Es ist nun für mich sehr interessant, wie Pippi dieses Buch sieht und ich frage mich jetzt, ob ich mit meiner Intuition Recht habe: Vielleicht ist bei einer Mutter das erste Reagieren zum Neugeborenen einfach "intuitiv" (würde es den Müttern weh tun zu sagen "ureigen", instinktiv?) wärmer, positiver; die Story, wie sie hier erzählt wird, ist eben vielleicht eher dem Mann zugeordnet?
Wenn Pippi die Flucht vor Verantwortung, in gewissem Sinne die Unreife, den Egoismus kritisiert, so würde ich diese ersten Reaktionen erst einmal einfach "feststellen". So reagiert Bird, so sind seine Ängste. Und alles "besser sein wollen" meinerseits verhindert es nicht, dass ich diesen Bird irgendwie verstand... Nicht dass ich bewusst einverstanden bin, aber als erste Reaktion, als Angst für mich doch verständlich.
Das Wort von Pippi, auf das ich persönlich Betonung lege, ist "Entwicklung". Steht denn nicht am Ende des Romans einer, der Schritte gegangen ist??? Solche Schritte, solche Entwicklung sind das Ausschlaggebende, nicht die ersten Reaktionen...
Ein sehr bewegendes, unter die Haut gehendes Buch!
tom
 

Beitragvon Pippilotta » 30.07.2007, 06:50

tom hat geschrieben:Vielleicht ist bei einer Mutter das erste Reagieren zum Neugeborenen einfach "intuitiv" (würde es den Müttern weh tun zu sagen "ureigen", instinktiv?) wärmer, positiver; die Story, wie sie hier erzählt wird, ist eben vielleicht eher dem Mann zugeordnet?


Das "typisch Mann" war natürlich meine erste Reaktion, ich habe es aber in der Rezension bewusst unterlassen. Ganz sicher reagiert eine Frau anders, sie hat ja auch nicht die Möglichkeit, nach der Geburt einfach abzuhauen und sich vollaufen zu lassen. Bei der Mutter, so meine Einschätzung, würde diese Krise sicherlich auch kommen, aber später. Ganz zuerst steht da der Beschützerinstinkt.

Nicht dass ich bewusst einverstanden bin, aber als erste Reaktion, als Angst für mich doch verständlich.


Am meisten kritisiere ich das Negieren dieses Kindes. Er wollte zuerst gar nicht wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, er schaute sich nicht einmal das Gesichtchen an (er erkannte es später in der Klinik gar nicht). Dieses "Abhauen", "hinter mir die Sintflut",ohne sich mit dem Problem direkt auseinanderzusetzen oder zumindest versuchen, die Herausforderung anzunehmen, damit kann ich mich auch nur schwer abfinden.

Solche Schritte, solche Entwicklung sind das Ausschlaggebende, nicht die ersten Reaktionen...


Das sehe ich auch so. Diese Krise war seine große Chance und er hat sicher einen enormen Schritt hinsichtlich Persönlichkeitsbildung gemacht. Schön, dass er sie genutzt hat! Auf diese "Entwicklung" bzw. die Schilderung der Beweggründe, der Gewissenskonflikte wurde leider für mein Befinden ein bisschen zu wenig eingegangen. Darum - und auch, weil ich mir stilistisch etwas mehr erwartet habe - gibt es einen Stern Abzug.

Ich kann das Buch auch sehr empfehlen, nur wolves sollte vorerst mal die Finger davon lassen!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon wolves » 30.07.2007, 14:19

Pippilotta hat geschrieben:Ich kann das Buch auch sehr empfehlen, nur wolves sollte vorerst mal die Finger davon lassen!


Ups, ertappt! Beim lesen der Rezi dachte ich auch schon, dass das ein Buch für mich sein könnte, aber ich ahne schon,warum ich es wohl noch vorerst nicht lesen sollte. Und das ist gut so! Danke Pippi :bussi:
Liebe Grüße
wolves


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