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Perutz, Leo - Der Meister des Jüngsten Tages




Perutz, Leo - Der Meister des Jüngsten Tages

Beitragvon Monika » 21.08.2009, 20:57

Als das „mögliche(m) Resultat eines Fehltritts von Franz Kafka mit Agatha Christie“, bezeichnet der Schriftsteller Friedrich Torberg den Verfasser dieses Romans auf der Rückseite des Buches. Tatsächlich ist die Geschichte um eine Reihe von mysteriösen Selbstmorden, in die der Ich-Erzähler Freiherr von Yosch im herbstlichen Wien des Jahres 1909 verwickelt wird, vielschichtig, doppelbödig und faszinierend. Die ganze Zeit bleibt der Leser im Unklaren darüber, womit er es eigentlich zu tun hat. Mit einem Kriminalroman? Bestimmte Verdachtsmomente, die auf Mord statt Selbstmord verweisen und das klassische Rätsel des geschlossenen Raumes sprächen dafür. Oder hat man einen Psychothriller vor sich? Denn es ist auch die Rede von tiefen Urängsten, alptraumhaften Beklemmungen und schrecklichen Visionen. Schließlich scheint eine alte und mächtige Magie eine unheilvolle Rolle zu spielen, also handelt es sich vielleicht doch um eine phantastische Begebenheit. Welches Spiel spielt der undurchsichtige Yosch? Und was bedeutet die geheimnisvolle Farbe drommetenrot? Wenn auf den letzten Seiten die Auflösung erfolgt, haben sich die verschiedenen Lesarten im Kopf des Lesers zu einer einzigen unheimlichen Geschichte vermischt.

Jorge Luis Borges hat den „Meister des Jüngsten Tages“ in seine Edition der besten Kriminalromane der Welt aufgenommen. Aber als Kriminalroman wollte Leo Perutz seine Erzählung nicht verstanden wissen. Mit Recht. Denn sie geht weit über einen herkömmlichen Krimi hinaus. Der 1923 erschienene Roman ist nicht nur auf seine Art sehr spannend, er spielt auch mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen und leuchtet psychologische Untiefen aus. Auf knapp 200 Seiten schafft es der Autor, in einer wunderbar klaren, eindringlichen Sprache Personen und Milieu lebendig werden zu lassen und einen Einblick in das bürgerlich-adlige Leben des historischen Wien vor dem ersten Weltkrieg zu geben. Die Bilder des Herbstes und die Erinnerungen des Protagonisten an versunkenes Glück schaffen zusätzlich zu der rätselhaften, düsteren Stimmung noch eine Atmosphäre von Vergänglichkeit und Verfall. Ein leicht zu lesendes, faszinierendes und schönes Buch von einem Autor, den wieder zu entdecken es sich lohnt.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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Zuletzt geändert von Monika am 23.08.2009, 20:13, insgesamt 3-mal geändert.
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Beitragvon Dr.Who » 21.08.2009, 22:59

Danke für die Rezi und für den letzten Satz dem ich nur zustimmen kann. Im Dunstkreis von Kafka und Meyrink ist für mich Perutz der am leicht zu lesenste von den dreien. Ich hab noch ein Buch von ihm auf meinem SuB, vielleicht schnapp ich mir das bald. :wink:
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Beitragvon chip » 22.08.2009, 02:27

Danke für die Rezi, Monika! Das Buch liegt seit über einem Jahr in meinem Regal und werde es wohl auch in den kommenden Tagen aufschlagen. Bei so viel einstimmiger Euphorie über den Autor im Klassikerforum, bei der litteratur und nun auch hier ...
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Beitragvon Krümel » 27.12.2009, 21:34

chip hat geschrieben:Danke für die Rezi, Monika! Das Buch liegt seit über einem Jahr in meinem Regal und werde es wohl auch in den kommenden Tagen aufschlagen. Bei so viel einstimmiger Euphorie über den Autor im Klassikerforum, bei der litteratur und nun auch hier ...


Was sagst du denn nun dazu, du hast den Roman gelesen und keine Reaktion von dir :?:

PS In Euphorie verfalle ich nicht
Monika hat geschrieben:Der 1923 erschienene Roman ist nicht nur auf seine Art sehr spannend, er spielt auch mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen und leuchtet psychologische Untiefen aus.
tiefenpsychologisch, ja, so empfinde ich diese Erzählung, aber ist das nun etwas ganz Besonderes? Was macht diesen Autor so populär, dass er gar mit Kafka verglichen wird :?:
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Beitragvon chip » 28.12.2009, 08:58

Werde ich erst nach einer Rezension vollständig rehabilitiert sein? ;-) Monika hatte eigentlich schon alles gesagt. Die letzten Seiten sorgen dafür, dass der Roman die Bahnen des reinen Kriminalromans verlässt und in eine neue Wahrnehmungsebene gleitet. Perutz beherrscht sein Metier und treibt ein Spiel mit dem Leser. Oder hat der Ich-Erzähler wirklich nur seine Erinerungen aufgeschrieben, wie er sie sah, und die Fakten verdrängt? Ein weiteres Beispiel, dass man dem Ich-Erzähler nicht trauen soll. Kurzum: Mir hat das klug konstruierte Buch sehr gut gefallen.
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Beitragvon alwin03 » 28.12.2009, 10:21

chip hat geschrieben:Werde ich erst nach einer Rezension vollständig rehabilitiert sein? ;-) Monika hatte eigentlich schon alles gesagt. Die letzten Seiten sorgen dafür, dass der Roman die Bahnen des reinen Kriminalromans verlässt und in eine neue Wahrnehmungsebene gleitet. Perutz beherrscht sein Metier und treibt ein Spiel mit dem Leser. Oder hat der Ich-Erzähler wirklich nur seine Erinerungen aufgeschrieben, wie er sie sah, und die Fakten verdrängt? Ein weiteres Beispiel, dass man dem Ich-Erzähler nicht trauen soll. Kurzum: Mir hat das klug konstruierte Buch sehr gut gefallen.



... und ich hab es per Bestellung heut Nacht in meinen SuB aufgenommen :D
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


wENN nUr meinE sCHleChte recht(s)SchreIbunG nICHT wÄr :cry:
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Beitragvon Monika » 29.12.2009, 17:47

Krümel hat geschrieben:
Monika hat geschrieben:Der 1923 erschienene Roman ist nicht nur auf seine Art sehr spannend, er spielt auch mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen und leuchtet psychologische Untiefen aus.
tiefenpsychologisch, ja, so empfinde ich diese Erzählung, aber ist das nun etwas ganz Besonderes? Was macht diesen Autor so populär, dass er gar mit Kafka verglichen wird :?:


Wer vergleicht denn Perutz mit Kafka? Wenn Du Dich auf das Zitat beziehst, das ich meiner Rezension vorangestellt habe, so wollte Torberg damit doch nicht ernsthaft Perutz mit Agatha Christie oder Kafka vergleichen, sondern nur auf launige Weise die eigentümliche Mischung von konkretem Kriminalfall und der Atmosphäre von Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit in diesem Roman charakterisieren.
Ich weiß auch nicht, wie Du zu der Behauptung kommst, der Autor sei populär. Das ist er keineswegs. Perutz war jahrelang in Vergessenheit geraten. Erst mit der Neuauflage seiner Werke in der gelben dtv-Edition wurde er wiederentdeckt. Aber diese Wiederentdeckung beschränkt sich auch heute nur auf einen kleinen Kreis von Lesern.

Krümel hat geschrieben:PS In Euphorie verfalle ich nicht


In Euphorie hat mich der Roman auch nicht versetzt. Da gibt es nur wenige Bücher, die das schaffen. Was mich beeindruckt hat, war weniger die Geschichte als die Sprache. Eine knappe, klare Prosa (wie sie übrigens auch Kafka schrieb :D ), die mit wenigen Worten, wenigen Strichen Stimmung erzeugt und zwischen den Zeilen anklingen lässt, wo andere Autoren breit ausholen (zum Beispiel das durch eigene Schuld vertane und im Grunde klägliche Leben des Protagonisten). Ich bewundere solche brillanten Stilisten sehr (Joseph Roth gehört auch dazu), vermutlich weil ich selbst eher zur Schwafelei neige. :oops:
Gruß Monika


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Beitragvon Krümel » 29.12.2009, 18:56

Monika hat geschrieben: Ich bewundere solche brillanten Stilisten sehr (Joseph Roth gehört auch dazu), vermutlich weil ich selbst eher zur Schwafelei neige. :oops:


Das hat was. Aber deine Beiträge sind nie Geschwafel, das mal vorweg. Also meine minimalistische Ader liebt lange Ausführungen. Ich kann mit manchen Stakkato-Stil nur wenig anfangen. Oh, ich sehe gerade, das ist ja auch kürzer als kurz :? Nein, der "Meister des Jüngsten Tages" ist sehrwohl empfehlenswert, allerdings seine "steinernde Brücke", damit konnte ich gar nichts anfangen.

Dieser Torberg hat es höchstwahrscheinlich geschafft, ich besitze die Gutenberg-Ausgabe ohne seine Erläuterung, dass einige Leser seine Rede sehr ernst genommen haben, und diesen Vergleich auch 1:1 aufgenommen haben, also mir ist das mehrmals vor die Füße gefallen :wink:

Populär, doch in unserem Forum schon, wanderte gar als Wanderbuch herum, und alle schwärmen vom Autor :oops:
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Beitragvon Monika » 29.12.2009, 19:49

Krümel hat geschrieben:Populär, doch in unserem Forum schon


Genau, Krümel, populär ist, wer im Krümelforum gern gelesen wird! Was schert uns der Rest der Welt! :lol: :lol: :lol:
Gruß Monika


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Beitragvon Krümel » 29.12.2009, 20:27

Monika hat geschrieben:Genau, Krümel, populär ist, wer im Krümelforum gern gelesen wird! Was schert uns der Rest der Welt! :lol: :lol: :lol:


Genau :grins:

PS Und irgendwie muss ich ja den Laden am Laufen halten :mrgreen:
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