(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)
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O'Nan, Stewart - Engel im Schnee

18.06.2009, 16:22

Ich werde nach und nach einige meiner alten Rezensionen aus dem BT über Bücher, die mir gefallen haben, überarbeiten und hier im Forum einstellen, wenn's recht ist. Ich fange mit Stewart O'Nan an.

Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel "Snow Angels" bei Doubleday, New York


Es ist Mitte Dezember. Seit Wochen herrscht ein schneidend kalter Winter in der kleinen Provinzstadt Butler, Pennsylvania. Es ist ein Winter, der alle Dinge schmerzhaft scharf hervortreten lässt, ein Winter der erstarrten Gefühle und der abgestorbenen Hoffnungen.

Der 15jährige Arthur Parkinson probt gerade mit dem High School Orchester draußen auf dem Footballplatz, als im nahe gelegenen Waldgebiet mehrere Schüsse fallen. Er wird Ohrenzeuge des Mordes an Annie Marchant, der hübschen, rothaarigen Annie, die vor Jahren seine Babysitterin und sein erster Schwarm war. Es ist der Schlusspunkt einer sich seit Wochen anbahnenden Familientragödie.

Annie kommt mit ihren Leben nicht zurecht. Nach der Trennung von ihrem labilen, antriebsarmen Ehemann hat sie eine Affäre mit dem Mann ihrer besten Freundin begonnen. Doch im Grunde weiß Annie, dass auch Brock ihr nicht den Halt geben kann, nach dem sie verzweifelt sucht. Enttäuscht und verbittert über ihr Geschick, überzeugt von ihrer eigenen Unzulänglichkeit und überfordert durch die Doppelbelastung von Schichtdienst und Kindererziehung, lässt sie ihren Frust auch an ihrer kleinen Tochter Tara aus. Ihr Ex-Mann Glenn kann sich mit der Trennung nicht abfinden. Seine Hoffnung auf Versöhnung bleibt jedoch vergeblich und so überlässt er sich mehr und mehr religiösen Wahnvorstellungen. Brock schließlich bemüht sich zwar, Annie und ihrer Tochter zu helfen, aber er ist der Situation nicht gewachsen und beginnt eine Affäre mit einem Mädchen aus der Firma. Hilflos müssen Annies Mutter und Glenns Eltern mit ansehen, wie das Leben ihrer Kinder buchstäblich den Bach hinuntergeht.

Hilflos ist auch Arthur den Ereignissen dieses Winters ausgeliefert. Er muss nicht nur die Trennung seiner Eltern und den Umzug mit seiner Mutter in ein ärmliches Wohnviertel verkraften, sondern kommt auch auf eine sehr tragische Weise noch einmal mit dem Schicksal Annies in Berührung. Doch er bleibt allein mit seinen Ängsten. Seine Eltern kriegen ihre persönlichen Probleme nicht in den Griff, seine ältere, bei der Air Force in Deutschland stationierte Schwester bürdet ihm telefonisch die Verantwortung für die immer haltloser werdende Mutter auf, die Bemühungen eines Psychiaters, zu dem er geschickt wird, bleiben halbherzig. Arthur schottet sich ganz bewusst gegen das Chaos und den Zerfall um sich herum ab. Er ist wild entschlossen, sich durch nichts, was in diesem Winter geschehen ist, vom Glücklichsein abhalten zu lassen. Und so übt er weiter Posaune im Schulorchester, bekifft sich hin und wieder mit seinem Freund Warren und erlebt die erste Liebe mit einem Mädchen aus der neuen Nachbarschaft. Doch Arthur ist erst fünfzehn und kann nicht verhindern, dass die Ereignisse dieses Winters Spuren hinterlassen.

Stewart O'Nan’s erster Roman ist eine ruhig erzählte Geschichte von leiser Dramatik und Eindringlichkeit. Die Sprache ist klar und präzise, sie bleibt dicht an ihren Figuren, beschreibt nur und erklärt nicht. Die Bilder des Winters, der die Menschen wie in einem Albtraum gefangen hält, unterstreichen die beklemmende Stimmung von Unabwendbarkeit und hoffnungsloser Kälte. Da die Vorgänge aus der Sicht der Beteiligten gezeigt werden, erlebt der Leser Annies Verhängnis und den Zusammenbruch von Arthurs Welt Schritt für Schritt mit. Einfühlsam und doch immer mit einer gewissen Distanz schildert der Autor die Perspektivlosigkeit seiner Figuren, ihre Suche nach Geborgenheit und Glück, ihr vorprogrammiertes Scheitern bei dem Versuch, ihr chaotisches Leben in den Griff zu bekommen. Die unschuldigen Opfer sind Arthur und Annies kleine Tochter Tara, die mit Entwicklungen konfrontiert sind, auf die sie keinen Einfluss haben.
Erzählt wird die Geschichte aus zwei Perspektiven. Die eine beschreibt Annies Schicksal. Sie ist in der dritten Person und im Präsens geschrieben, denn Annies Leben hat keine Zukunft und keine Vergangenheit mehr, es ist für immer erstarrt in der Kälte jenes Winters. Die andere gehört dem Ich-Erzähler Arthur, der bei einem Besuch in seiner Heimatstadt an den Schmerz und die Verzweiflung der letzten Tage seiner Kindheit zurückdenkt. Er beschließt seine Erinnerungen mit den Worten, er könne sich sehr genau vorstellen, "wie ich die Menschen, die ich liebte, jemals würde hassen können... und das würde sich sehr lange nicht ändern". Eine bittere Feststellung, die die Auswirkungen der traumatischen Erlebnisse auf sein Leben andeutet und doch gleichzeitig schon die tröstliche Aussicht auf ihre Überwindung miteinschließt.
:stern: :stern: :stern: :stern:

Bild
Zuletzt geändert von Monika am 26.10.2014, 18:59, insgesamt 2-mal geändert.

18.06.2009, 16:22

18.06.2009, 18:56

Prima Monika :D Kann ich diese Rezis auch ins Blog stellen?
Steht schon auf meiner Wunschliste :wink:

18.06.2009, 19:04

Krümel hat geschrieben:Kann ich diese Rezis auch ins Blog stellen?


Kannst Du, Krümel! Du brauchst mich auch nicht jedes Mal zu fragen. Nimm nur immer in Dein Blog, was Dir gefällt. Danke übrigens für das Einfügen des Covers. Das habe ich völlig vergessen.

18.06.2009, 19:11

Monika hat geschrieben:Kannst Du, Krümel! Du brauchst mich auch nicht jedes Mal zu fragen. Nimm nur immer in Dein Blog, was Dir gefällt. Danke übrigens für das Einfügen des Covers. Das habe ich völlig vergessen.


Danke!

Übrigens muss das die gute Fee gewesen sein, ich war es nicht :oops:
Danke Pippi :bussi:

18.06.2009, 19:24

Ach, Pippi war das. Dann bedanke ich mich auch recht schön bei ihr, und sie möge mir verzeihen ob meiner Saumseligkeit. :danke:

18.06.2009, 19:33

keine Ursache! :wink:

19.06.2009, 06:06

Stewart O'Nan ist einer der Lieblings-Schriftsteller einer guten Freundin von mir.
Ich habe hier noch "Halloween" stehen .... ich werde das Buch nun wohl etwas weiter nach vorne ziehen und nicht mehr so lange unbeachtet lassen.

Danke für die Rezi Monika!!
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