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Frisch, Max - Mein Name sei Gantenbein




Frisch, Max - Mein Name sei Gantenbein

Beitragvon Katia » 06.04.2008, 22:44

[center]Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein [/center]

Frischs Thema ist die Identitätsfindung - wehrt sich Stiller noch ("Ich bin nicht Stiller"), so hat Gantenbein das gar nicht mehr nötig. Er ist unumwunden eine Fiktion - nicht die einzige des Romans, dessen wirklicher Erzähler nicht ins Licht rückt.
Die zentrale Frage ist: Wie geht ein Mann damit um, wenn ihn seine Frau betrügt? Gantenbein hat die Lösung gefunden: er gibt vor blind zu sein und muss so nichts sehen, den Mann nicht sehen, mit dem seine Frau am Flughafen aus dem Zoll kommt, ihre Unzulänglichkeiten als Hausfrau, die Briefe aus Dänemark - er sieht, aber niemand weiß; so ist er nicht gezwungen zu handeln, außer unbemerkt im Hintergrund.
Seine Frau ist Lila, meistens eine glamouröse Schauspielerin mit vielen Verehrer, häufigen Reisen zum Drehen.
Rund um diese Kernhandlung spinnt der Erzähler weitere Personen und Geschichten: Svoboda, den ersten Ehemann, Enderlin, den Liebhaber; doch Rollen, Charaktere und Haarfarben wechseln in der Fantasie des Erzählers. Seine überbordensten Fantasiegespinste baut er als "Geschichten für Camilla" ein - eine junge Prostituierte, die vorgeblich Maniküre betreibt. Der einzige, der ihr dies glauben darf, ist der angeblich blinde Gantenbein. Dieser Zwiespalt begleitet durch die gesamte Lektüre: der falsche Blinde, der nicht sehen muss, wenn er nicht will, der übersehen muss, um seine Rolle nicht zu gefährden.

Frischs Roman, für mich Zweitlektüre nach 10 Jahren, hat mich zu Beginn verwirrt, bis ich mich darauf einlassen konnte, dass immer neue Geschichten, immer neue Wandlungen auf den Leser zu kommen. Frisch springt aus der ersten in die dritte Person, der Erzähler springt durch die Geschichten, kann als pseudo-blinder Gantenbein seine Umgebung genau beobachten, ist Gantenbein, ist Enderlin, ist Svoboda.
Viele der Episoden sind tiefgründige Gedankenspiele: wie ist es, zu glauben, nur noch ein Jahr zu leben; wie wäre es, in der Zeitung seine eigene Todesanzeige zu lesen. Und alle geben dem Leser die Gelegenheit über das Leben, über die Menschen, ihre ganz persönlichen Geschichten und Sichtweisen, ihre Lebengestaltung nachzudenken. Oder in Frischs eigenen Worten:
"Im Ernst," fragte sie [...] "das ist eine wahre Geschichte?"
"Ja," sagte ich, "ich finde."

Die Sprache fließt in langen, strömenden Sätzen - ich habe sie sehr genossen. Kein leichtes Buch, aber ein bereicherndes, lebenskluges, unbedingt lesenswertes.
:stern: :stern: :stern: :stern:
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Beitragvon alwin03 » 07.04.2008, 06:04

Danke @Katia!

Als leicht habe ich es damals auch nicht empfunden, aber ich habe mich köstlich amüsiert wenn ein "Blinder" einer Frau den Weg beim Auto fahren erklärt. :D
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


wENN nUr meinE sCHleChte recht(s)SchreIbunG nICHT wÄr :cry:
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Beitragvon Pippilotta » 07.04.2008, 06:18

An diesem Buch bin ich gescheitert. Vor ca. 3 Jahren habe ich es begonnen, aber nach 80 (?) Seiten völlig entnervt beiseite gelegt, weil ich mich überhaupt nicht auskannte. Aber wenn ich mir Katias Rezi so lese denke ich, ich sollte doch noch einen Versuch wagen. :?: :!:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Voltaire » 07.04.2008, 06:37

Max Frisch ist immer wieder neu ein Erlebnis!
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Beitragvon Krümel » 07.04.2008, 10:35

Ich habe nach der Lektüre gesagt: Man muss das Gelesene nicht immer verstehen, man muss es genießen :!:

Katia kam dir nicht der Gedanke, es könnte sich um ein und gleiche Person handeln? Also der Blinde und der Liebhaber? Nach dem ich es aufgegeben hatte, das Buch wirklich zu verstehen, fand ich es köstlich :mrgreen:

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: / :stern:

Dieses Buch will ich irgendwann mal wieder lesen!
Zuletzt geändert von Krümel am 17.11.2008, 11:20, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Katia » 07.04.2008, 19:56

@Krümel: Na, da hab' ich mich in der Rezi wohl unklar ausgedrückt. Ich sehe das so: der Erzähler ist ja keine der drei Personen (Gantenbein, Enderlin, Svoboda), sondern er erfindet alle drei, um mit verschiedenen Facetten seines eigenen Ichs zu spielen, mit verschiedenen Möglichkeiten und Lebensentwurfen - in diesem Sinne ist es nur eine Person.
Diese "Schizophrenie" hat mich zu Beginn sehr stark an Bachmanns "Malina" erinnert - da die beiden ja auch lange ein Paar waren, liegt es ja auch irgendwie nahe, dass der eine den anderen beeinflusst hat.

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Beitragvon Krümel » 08.04.2008, 09:59

Katia hat geschrieben: Ich sehe das so: der Erzähler ist ja keine der drei Personen (Gantenbein, Enderlin, Svoboda), sondern er erfindet alle drei, um mit verschiedenen Facetten seines eigenen Ichs zu spielen, mit verschiedenen Möglichkeiten und Lebensentwurfen - in diesem Sinne ist es nur eine Person.


Hi prima, dann ist mir dieses Licht auch aufgegangen :D
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Beitragvon chip » 16.11.2008, 21:22

Ein letztes Mal kehrt er in jene Wohnung zurück, hockt auf der Lehne eines Sessels, die Fensterläden sind geschlossen, der Teppich bereits zusammen gerollt und im Kühlschrank modert der Schinken vor sich hin. Vor kurzem wurde hier noch gelebt, er mit seiner Frau. Nun sitzt er dort mit Mantel und Mütze und fragt sich, wie es zu dieser Trennung kommen konnte.

„Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein anderer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung …“


Er macht sich also auf die Suche nach einer Geschichte, erfindet neue Persönlichkeiten mit neuen Biografien. Fiktive Figuren in einer fiktiven Welt, doch geplagt von gleichen Erfahrungsmustern wie der Erfinder. Dadurch, dass er die erdachten Figuren ausführen lässt, kann er seine eigene Position festigen, eine objektivere Sicht seines Handelns und Denkens aufrichten.

Einer seiner Helden nennt sich Gantenbein und ist idealerweise blind, denn auch er muss damals unter Blindheit gelitten haben damit er die beunruhigenden Vorzeichen übersehen konnte. Die Erblindung seiner „Schöpfung“ allerdings ist nur vorgetäuscht, vielleicht um die ahnungslosen Personen um ihn herum besser beobachten zu können, die sich von ihm unbeobachtet fühlen. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, durch das bewusste Blindsein gerade deshalb umso gewissenhafter hinzuschauen.

„Er redete von ihr wie von einem wirklichen Menschen, und ich scheine der Einzige zu sein, der sie nicht sieht.“

Nein, natürlich ist die Eifersucht der eigentliche Antrieb, in diese Rolle zu schlüpfen. Und der scheinbar Blinde sieht, was er längst weiß und was sich endlich bestätigen lässt. Aber tut es das wirklich? Denn sind die gefundenen Briefe tatsächlich von einem unbekannten Verehrer und nicht doch von ihm selbst verfasst worden, ist der junge Mann am Flughafen, der gerade seiner Frau mit dem Gepäck behilflich ist wirklich ein Nebenbuhler oder einfach nur ein hilfsbereiter Mensch? Von Eifersucht begleitet glaubt er, seine Frau sei die Schuldige an der Trennung. Durch die Sicht eines Außenstehenden jedoch kristallisiert sich eine Mitschuld heraus.

„Eifersucht […] ist die Kluft zwischen der Welt und dem Wahn.“

Svoboda und Enderlin, weitere ausgedachte Figuren, die sich aber durch ihre Bemühungen der (Re-)Konstruktion einer Geschichte als ungeeignet erweisen. Für Svoboda ist bereits Realität, was sich für Gantenbein noch als mögliches Szenario abzeichnen könnte. Er ist die hoffnungsloseste Gestalt der Erfinder-Phantasie, denn eine Trennung ist unvermeidbar geworden, seine Ablösung als Ehemann steht bereits auf der Türschwelle. Im Gegensatz zu Gantenbein will er nicht sehen, nicht hören, was seine Frau ihm mitzuteilen hat.

„Inzwischen ist es Donnerstag geworden, ja, aber noch immer fällt kein Vorhang; das Leben, das tatsächliche, gestattet ja nicht, dass man es überspringt, nicht um ein Jahr und nicht um einen Monat und nicht um eine Woche, auch wenn man ungefähr weiß, was folgen wird…“

Enderlin ist der zögernde Liebhaber, im Zweifel gefangen, fürchtet Wiederholungen und vermeidet daher eine zweite Liebesnacht mit dieser Frau, die sich doch nicht sonderlich von der ersten unterscheiden wird. Sein Alltag ist ein einziges Déjà-vu, die Angst vor dem Altern macht aus ihm einen unschlüssigen Menschen. Nachdem ihm versehentlich ein früher Tod in Erwartung gestellt wird, bricht Angst oder doch eine versteckte Sehnsucht auf ein rasches Ende hervor? Auch seine Figur wird als untauglich verworfen, weil sie ins Nichts endet.

„Fassaden von gestern, Plätze von gestern, unverändert, die gleichen Straßen und Kreuzungen wie gestern, die monströse Reklame einer Fluggesellschaft, die ihm gestern schon aufgefallen war. Alles unverändert: nur ist es nicht gestern, sondern heute. Warum ist es immer heute?“

Mit Gantenbein scheint er auf der richtigen Fährte, obwohl der Leser nicht wirklich eine Ahnung von dem hat, was der eigentliche Erfinder über eine Sache denkt. Jedes Wort steht einzig in Beziehung zum künstlich Erdachten. Eine Ahnung bleibt, er könne Ähnliches erlebt und gedacht haben, weil alle drei Gestalten äußere Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber die Gewissheit fehlt, auch bei ihm selbst. Übrig bleibt eine gesichtslose Leiche – ohne Geschichte.

„Ich bin blind. Ich weiß es nicht immer, aber manchmal. Dann wieder zweifle ich, ob die Geschichten, die ich mir vorstellen kann, nicht doch mein Leben sind. Ich glaub’s nicht. Ich kann nicht glauben, dass das, was ich sehe, schon der Lauf der Welt ist.“

Max Frisch entwirft, skizziert eine Lebensgeschichte mittels dreier fiktionaler Figuren. Dabei werden keine Berge verschoben, sondern ganz unschuldig die einfachen, alltäglichen Situationen einer Beziehung offen gelegt. Zeit und Ort verschwimmen, Wahrheit und Fiktion zerfließen, Identität und Relation variieren, Begebenheiten werden durch neue ausgetauscht, diverse Möglichkeiten zu Ende gedacht, mit der Illusion, Entscheidungen rückgängig machen zu können. Lebensweisheit und Wahrheit lässt Frisch einfließen, weltklug, tiefschürfend und ehrlich, episodenhaft geschrieben, noch dazu eine packende Sprache zu endlos kraftvollen Sätzen geformt. Ein Meisterwerk!
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip
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Beitragvon wolves » 17.11.2008, 07:38

@chip: Deine Rezi macht sowas von neugierig auf das Buch! Danke für den Tipp!
Von Frisch hatte ich "Andorra" und "Homo Faber" gelesen (war sogar Schullektüre :D ), wobei ich bei dem letzt genannten zwei Anläufe gebraucht habe, bis ich in die Geschichte rein gekommen bin.

Edit: Und auch ein Dankeschön an Katia, Alwin und Krümel, die meinem SuB wieder neuen Auftrieb geben. :wink: :D
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon chip » 17.11.2008, 12:47

Oh wolves, lies es, Du kannst es nicht bereuen. Ich bin fasziniert von der Vielfalt, die im Buch auftaucht und habe mein Exemplar auch gleich schon wieder verliehen.

Gruß,
chip
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Beitragvon wolves » 02.09.2009, 12:00

chip hat geschrieben:Oh wolves, lies es, Du kannst es nicht bereuen.
Brav wie ich bin ( :mrgreen: ) habe ich im Urlaub mit dem Buch begonnen. Wow, was für eine Lektüre!

Dieses "Spiel" mit den verschiedenen Möglichkeiten von Lebensentwürfen fasziniert mich absolut. Interessanterweise bekomme ich beim lesen seiner Bücher immer ein "kaltes" Gefühl. Das kann ich jetzt etwas schwerer erklären. Als wenn die beschriebenen Personen "kalt" wären, aber dem ist ja nicht so. Hm, es ist schwer Worte für dieses Gefühl zu finden.
Liebe Grüße
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