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Ibsen, Henrik - Nora oder Ein Puppenheim




Ibsen, Henrik - Nora oder Ein Puppenheim

Beitragvon tom » 30.01.2009, 23:22

Original: Et dukkehjem (1879, norwegisch, auf Deutsch: Ein Puppenheim)

Nora ist ein Dreiakter und Drama, zunächst also für die Bühne bestimmt! Die Uraufführung fand im Dezember 1879 in Kopenhagen statt.

ZUM INHALT:. Nora ist seit acht Jahren mit Torvald Helmer verheiratet und sie haben drei Kinder. Es ist Weihnachten. Schnell haben wir eine Idee von der Rollenverteilung in dieser „gutbürgerlichen Ehe“. Torvald, angehender Bankdirektor, benimmt sich wie ein herablassender Patriarch, der bei gleichzeitigen Koseworten doch seine Frau nicht für voll nimmt, sie aber stets anmahnt zu Vorsicht und Bescheidenheit. Das Haushaltsgeld verteilt er wie von oben herab. Nora spielt nicht nur in seinen Augen, sondern auch zu ihrem eigenen Vergnügen, bzw. in ihrem Verstehen ihrer Aufgaben, den Part einer Lerche, eines stets munteren Singvogels, die ganz auf den Mann ausgerichtet zu sein scheint. Wir erfahren aber, dass sie es war, die einst durch eine gewagte Aktion, die die einen Verbrechen, die anderen eine Heldentat nennen mögen, ihrem Mann einen lebensrettenden, gesundheitlich notwendigen Aufenthalt in Italien ermöglichte, ohne dass jener von ihrem Tun wusste. Niemals hätte er in dieser Männergesellschaft quasi seine Frau als Retterin annehmen können. Als Noras „Verbrechen“ aufzufliegen droht, träumt sie vom „Wunderbaren“: Torvald würde sich bei Veröffentlichung ihres Tuns opfern wollen! Doch es kommt ganz anders und Nora muss feststellen, dass alle ihre Vorstellungen daneben lagen und dieser Mann sie nie richtig geliebt hat. Der einzige Weg für sie scheint die radikale Trennung von der Familie und die Besinnung auf sich selbst. Sie wird die Familie verlassen.
Sehr ausführliche Inhaltsangabe unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Nora_oder_Ein_Puppenheim

BEMERKUNGEN: Es ist fast anmaßend, ein solch bekanntes Stück (von dem ich durch Kreuzworträtsel schon in der Kindheit gehört habe) nun mal schnell zu besprechen. Und dies können nur einige sehr subjektive Gedanken zu einem großen Werk sein, das meines Erachtens vielschichtiger und reicher ist, wie es sich vordergründig gibt.

Ich war etwas erstaunt, als ich hier und da von der „tollen Frauenfigur“ und feministischen Vorläuferin Nora las. In meiner Lesart ist Nora nicht zunächst eine langzeitig engagierte Freiheitskämpferin, sondern fast im Gegenteil, eine nicht etwa nur bei gleichzeitiger Leichtigkeit geduckte und unterwürfige Frau, sondern in gewissem Sinne sogar mit dieser Rolle sich identifizierend und eins. Wenn sie, aber quasi erst im letzten Achtel, das Drama ihres eigenen Lebens und die Winzigkeit ihres Mannes erkennt und sich sozusagen ohne Zögern zu einer radikalen Trennung entscheidet, dann ist der befreiende Schritt in sich auch Teil des Dramas. Da hat ein Mensch ein Leben lang nicht nur brav ihre Rolle als Puppe gespielt, sondern dies als eine Aufgabe gesehen. Nur im Nachhinein, so dünkt mir, ist sie sich mit seltsamer und neuer Klarsichtigkeit bewusst, dass sie von jeher in den Augen der anderen „nur eine Puppe“ war. Ihre Abrechung mit Torvald, in jenen letzten zehn Seiten des Stückes, ist ein Meisterwerk. Doch man kann schon ein wenig staunen, mit welcher Plötzlichkeit die Erkenntnis und der Schlussstrich kommen. Sie kommen – um eine mögliche Antwort zu geben – nicht allein aus einem uns heute anderweitig geläufigen Wunsch nach Selbstbestimmung heraus, sondern aus einer tiefen Erfahrung der Enttäuschung angesichts eines Mannes, der sie im ersten Augenblick der Wahrheit bloßstellt und fallenläßt. War ihr Leben, in dem sie mit dem „Wunderbaren“ gerechnet hatte, nicht auf eine Illusion aufgebaut?

In diesem Stück geht es meines Erachtens weniger um eine Infragestellung der Ehe, der Partnerschaft, als vielmehr eine radikale Infragestellung einer gewissen Rollenverteilung: Hier der ach so großzügige Ernährer und Hausvater, der herablassende Geber und Gewährer, dort die allzeit bereite Frau, die zum Divertissement eventuell noch hinhalten kann, aber nie ein wahrer Partner ist. Hier der NEHMER, der Fordernde, der kein wahres Empfangen und Annehmen – und erst recht nicht von einer Frau! – leben kann. Dort eine Frau, die nicht etwa nur „sich in eine Beziehung zu“ setzt, sondern ihr Leben in einer Art Hörigkeit und Fremdbestimmung verbringt, und – falls sie etwas Widriges erahnt – schnell von Angst geprägt ist. In jener Welt ist die wahre Ehe – oder sollte man nicht besser sagen wagen: Liebe? - wie Nora es am Ende des Stückes sagt, noch gar nicht erreicht. Ihr Verlassen ist somit ein Schlussstrich einer Ehe, die nur auf dem Papier existiert hat.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Henrik Johan Ibsen (* 20. März 1828 in Skien/Norwegen; † 23. Mai 1906 in Kristiania, damaliger Name von Oslo) war ein norwegischer Schriftsteller und Dramatiker. (mehr Informationen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ibsen )


Taschenbuch: 96 Seiten
Verlag: Reclam, Ditzingen (1986)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3150012570
ISBN-13: 978-3150012574

Bild

Es gibt eine schöne Ausgabe bei Fischer, zusammen mit einem zweiten Drama, „Hedda Gabler“.
Broschiert: 208 Seiten
Verlag: Fischer (Tb.), Frankfurt; Auflage: 1 (3. März 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3596900476
ISBN-13: 978-3596900473

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tom
 

von Anzeige » 30.01.2009, 23:22

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Beitragvon wolves » 31.01.2009, 07:41

Tom, deine Rezension bzw. Gedanken über das Stück ist einfach großartig! Herzlichen Dank dafür! :D
Ich merke gerade wieder, es gibt noch so viele interessante Autoren für mich zu entdecken!
Liebe Grüße
wolves


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Re: Ibsen, Henrik - Nora oder Ein Puppenheim

Beitragvon alixe » 31.01.2009, 21:52

Hallo Tom,

zunächst mal danke für die Vorstellung von Nora. Ich habe jetzt festgestellt, dass ich das Drama noch einmal lesen muss, der Inhalt ist von Hedda Gabler verdrängt, die ich letztes Jahr auch auf der Bühne sah. Trotzdem hier ein paar Bemerkungen.

tom hat geschrieben:Ich war etwas erstaunt, als ich hier und da von der „tollen Frauenfigur“ und feministischen Vorläuferin Nora las.


Ich denke nicht, dass Nora als tolle Frauenfigur gelten soll, Nora bricht einfach mit dem klassischen Bild, der treuen, ergebenen Mutter und Hausfrau. Sie verlässt ihre Familie, ihre Kinder, einfach unvorstellbar. Ich brauch dir kaum das Frauenbild des 19. Jahrhunderts zu zeichnen, dem Nora ja anfangs des Dramas entspricht: die gute, fröhliche Gattin, die ihren schwer geplagten, schuftenden Ehemann das Leben versüßt. Der Skandal ist und war auch einer nach dem Erscheinen des Dramas, dass Nora dieses wohlbehütete Heim verlässt. Unverständlich ein solches Handeln, denn sie hatte doch nur ihre Rolle weiterhin zu erfüllen, die doch ihre Pflicht als Gattin und Mutter war. Unsittlichkeit wurde Ibsen vorgeworfen weil er gerade eine gute, liebe, verständnisvolle Frau, die Nora ihr Leben lang war zu einem „selbstsüchtigem“ Weib werden ließ und das „nur“ weil sie sich ungeliebt fühlt.
Zu der Zeit gab es natürlich schon viele Romane und Dramen um „gefallene“ Frauen, um Ehebruch, doch handelte es sich hier nie um ehrenvolle, sympathische Frauen. Den Skandal löste Ibsen eben dadurch aus, dass er im ersten Akt Nora als die perfekte Frau zeichnete, die sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen in ein Biest verwandelt.

tom hat geschrieben:In meiner Lesart ist Nora nicht zunächst eine langzeitig engagierte Freiheitskämpferin, sondern fast im Gegenteil, eine nicht etwa nur bei gleichzeitiger Leichtigkeit geduckte und unterwürfige Frau, sondern in gewissem Sinne sogar mit dieser Rolle sich identifizierend und eins.


Genau hier liegt das Besondere, freiheitskämpfende Frauen gab es wohl schon immer, auch in der Literatur, aber das waren eben keine Frauen wie Nora.

tom hat geschrieben:Wenn sie, aber quasi erst im letzten Achtel, das Drama ihres eigenen Lebens und die Winzigkeit ihres Mannes erkennt und sich sozusagen ohne Zögern zu einer radikalen Trennung entscheidet, dann ist der befreiende Schritt in sich auch Teil des Dramas. Da hat ein Mensch ein Leben lang nicht nur brav ihre Rolle als Puppe gespielt, sondern dies als eine Aufgabe gesehen. Nur im Nachhinein, so dünkt mir, ist sie sich mit seltsamer und neuer Klarsichtigkeit bewusst, dass sie von jeher in den Augen der anderen „nur eine Puppe“ war.


Und wie hast du Nora als Puppe erlebt? Ich war schrecklich genervt, doch wenn man bedenkt, dass hier ein klassisches Frauenbild dargestellt wurde, das allen Klischees und Erwartungen einer tadellosen Frau entsprach, dann ist es nicht erstaunlich, dass Ibsen mit Nora aneckte und ihm Provokation zu Demoralisation vorgeworfen wurde.
Und deshalb ist Nora ein fortschrittliches Drama.

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Beitragvon tom » 31.01.2009, 22:46

Ja, alixe, ich stimme (natürlich) mit Dir überein! Vielleicht erwartete ich quasi von der Assoziation der freieren Frauenfigur einen Bewußtheitsgrad bei Nora VON ANFANG AN. Das ist - glaube ich, nicht der Fall. Die "prise de conscience" (die Gegenüberstellung mit einer Realität) kommt relativ augenblicklich, schnell. Etwas erstaunlich bleibt die rasche Wortfindung bei der Anklage, der Aussprache.

Mich hat das Wesen Noras am Anfang des Stückes auch schon genervt, und natürlich vor allem auch das Wesen von Helmer! Rollenspiel pur. Und ich würde auch noch zusetzen, dass in gewissem Sinne nicht nur Nora die "Puppe" ist, sondern in anderer Hinsicht auch Helmer eine Schablone, eine Maske, Rolle spielt...

Nach der "prise de conscience" fällt die Entscheidung unmittelbar. Vielleicht gab es von je her bei vielen Menschen (Frauen zuerst?!) eine Ernüchterungserfahrung: ich werde nicht so geliebt, wie es sein sollte. Viele duckten sich DANN weiter, zogen keine Konsequenzen. Nora sieht KEINERLEI andere Möglichkeit der Zukunft: so wie sie wahrscheinlich vorher sich ein Leben "ohne" nicht hätte vorstellen können; ist nun nach der Enthüllung ein Leben "mit" undenkbar. DA entwickelt sie eine Radikalität, die die Gesellschaft SO nicht/oder kaum, kannte.
tom
 



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