Originaltitel: Unless (2003)
Carol Shields erzählt hier die fiktive Geschichte der Romanautorin und Übersetzerin Reta Winters, die in einem modernen kanadischen Haushalt zusammen mit ihrem Partner Tom ihre Töchter Chris, Natalie und Norah ein beschauliches und ausgefülltes Leben führt. Als ihre Älteste Norah von einem Tag auf dem anderen verschwindet, steht ihre Welt Kopf. Dass Norah wieder auftaucht, ist ihr geringer Trost - entscheidet sich ihre Tochter doch in Torontos Innenstadt an einer Straßenecke mit dem Schild "Goodness" zu sitzen. Norah spricht nicht, lässt nicht erkennen, dass sie die Besuche der Familie wahrnimmt und lebt in sich selbst zurückgezogen. Reta versucht die Ursache für diese Veränderungen zu ergründen und sieht sich doch durch Norahs Schweigen hilflos und ängstlich ausgebremst. Wo Norah verstummt, bieten Bekannte und Ärzte eine Vielzahl an Theorien und Verhaltensvorschläge. Letztendlich muss Reta erkennen, wie begrentzt ihr Einfluss ist und welche Auswirkungen die Handlungen einer Person auf ihre Umgebung haben, aber auch welchen Einfluss Fremde unbeabsichtigt mit ihren Taten auf eine Gruppe ausüben können.
Kunstvoll verwebt Carol Shields innere Monologe mit einem äußeren Erzählfaden. Wer spannende Handlung sucht, wird hier nicht fündig. Mich haben Retas Überlegungen, Gefühle und Ablenkungen jedoch sehr angesprochen. Der Ton des Romans wird der Thematik gerecht und Retas Gedankensprünge und Abschweifungen wirken wie der Versuch einer verzweifelten Frau einen Strang Normalität in einer sich auflösenden Welt festzuhalten. Sie beschäftigt sich verstärkt mit der Rolle der Frauen in der Welt und schreibt leidenschaftliche Leserbriefe gegen von ihr erkannte Ungerechtigkeiten und schafft so für sich einen Weg ihren Frust und ihr Leid in Worte zu fassen.
Als Leser fühlt man sich stellenweise unbehaglich, weil man merkt, wie verletzlich und angreifbar man selbst letzlich ist.
Für mich ist Carol Shield eine großartige Entdeckung! Sehr bedauerlich, dass sie bereits 2003 ihrem Krebsleiden erlegen ist. "Unless" (Die Geschichte der Reta Winters) ist neben einer Jane Austen Biografie ihr letztes Werk, in dem sie viele Themen aufgriff, die sie beschäftigten.