Die kleine flämische Stadt Reetveerdegem ist eine Wohlstandsinsel, die letzten Parzellen wurden mit symmetrischen Villen zugebaut, mit ihren englischen Rasen, vergitterten Teichen und kunstvollen Briefkästen in exakt abgemessenen Abstand zur Haustür. Mitten unter ihnen erhebt sich eine Bastion von asozialem Auswuchs - unerwünschtes Unkraut im Blumenbeet. Die heruntergekommene Bude der Verhulsts, als Schlafstätte der arbeitslosen Säuferfamilie umfunktioniert, in der bereits alles Materielle gepfändet wurde. Der Tagesablauf ist Routine, beginnend in einer Kneipe, endend in einer Kneipe. Mit versauten Trinkliedern und Saufwettbewerben verziert, erzählt Dimitri Anekdoten aus seiner Jugend, vom Leben in diesem versoffenen Männerhaushalt ohne Pflichten, ohne Grenzen. Es gilt lediglich, den unrühmlichen Ruf gegen Herabsehende zu verteidigen, denn etwas anderes besitzen sie nicht.
Mir wurde das Buch Anfang des Jahres vom Buchhändler geschenkt mit dem Hinweis darauf, dass es ein Verkaufsschlager sei. Doch erst in den letzten Wochen wurde meine Aufmerksamkeit auf Verhulst gelenkt, nachdem er vermehrt durch die belgische Presse geisterte. Nicht zuletzt durch die in Cannes vorgeführte Verfilmung. Es ist wohl die gelungene Mischung aus drastischem und empfindsamem Ton über eine Familie ohne Zukunftsperspektive, Fäkalwörter benutzend ohne anzuwidern, was wohl auch eine gewisse Kunstfertigkeit voraussetzt. MRR sagte einmal, man könne in einem Roman alles verarbeiten, es käme nur darauf an, wie es präsentiert werde.
Dimitri sieht mit ungeschöntem, etwas unbeteiligtem Blick zurück, hat er sich doch von diesem Leben seiner Verwandten distanziert. Die Welt ist ihm fremd geworden, wie die eingestreuten Kommentare des heutigen erwachsenen Erzählers deutlich machen. Der Humor ist derbe, die Szenen verschroben, manchmal brutal, manchmal rührend und doch spürbar authentisch. Es ist kein Meilenstein in der Literatur, bereut habe ich die Lektüre aber nicht. Ich habe mich sehr unterhalten.
Gruß,
chip