Der Titelheld wächst unter elendsten Bedingungen auf. Seine Mutter stirbt nach der Geburt und er wird daher mit Widerwillen des Vorstands erst in einem Armenhaus, später ins Waisenhaus untergebracht. Mit Widerwillen, weil die junge Frau ohne Ring am Finger starb und der kleine Oliver zwangsläufig unehelich geboren sein muss, also als Produkt der Sünde. Die Leitung dieser Institutionen gelingt es, Profit aus den bedürftigen Bälgern zu schlagen.
„Mit achteinhalb Pence lässt sich nicht viel bestreiten, aber die würdige Hausdame war eine kluge und erfahrene Frau und wusste, wie leicht sich Kinder überfressen können und was ihnen zuträglich war. Sie verwendete daher den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Wohl und verstand es auf diese Weise, die gesetzliche Grausamkeit noch um ein Beträchtliches zu vertiefen.“
Von Hass, Neid und Niedertracht gepeinigt, flieht Oliver in die Stadt. Ganoven nehmen ihn auf, weihen ihn in die Künste des Taschendiebstahls ein und verlangen von ihm die pflichteifrige Ausübung der neu erworbenen Kenntnisse, denn wie überall herrscht die Gleichung „keine Leistung ohne Gegenleistung“. Oliver weigert sich aber hartnäckig, seine weiße Weste zu beschmutzen und würde lieber sterben, als Unrechtes zu tun. Erst als ihn ein barmherziger alter Herr von der Straße Londons aufliest, erkennt er eine neue, ihm unbekannte Seite, eine liebenswerte Welt. Doch die Ganoven sind auf der Jagd nach ihm …
Dickens schreibt ein sehr realistisches Abbild des Elends seiner Zeit. Ein düsteres London, das - mir zumindest - so noch nie gezeigt wurde. Er scheint mir der einzige Autor der viktorianischen Epoche zu sein, der sich so tief in die niederen Abgründe getraut. Eine brutale Welt, ein leidvolles Panorama, glänzend beschrieben.
„Vor den Trödlerbuden hängen die schmierigsten Lumpen, und Arbeiter der niedrigsten Klasse, Lastträger, Kohlenfuhrleute, dann frech dreinblickende Dirnen und zerlumpte Kinder, kurz, der Auswurf des Themseufers drängt sich hier zusammen.“
Die satirische Note, seine Umwelt, vor allem aber die höhergestellte Gesellschaft zu zeichnen, womöglich zu kritisieren, lockert den Roman auf humorvolle Weise auf. Die Bürokratie, der Leiter des Waisenhauses, der Arzt, … fabelhaft! Leider verflüchtigen sich diese Einschübe, je weiter man liest.
Als Titelheld allerdings kommt Oliver zu selten zum Zuge. Außer liebenswürdig, nett und mitleiderregend dreinzublicken hat er eigentlich nichts weiter zu tun. Eine passive, eindimensionale Figur. Er ist zudem eine Lichtgestalt in der Literatur, dem kein böses Wort über die Lippen kommt, dem keine grausame Tat etwas anhaben kann. Wie ein Schutzschild prallt alle Bösartigkeit von ihm ab, seine Tugenden bleiben unversehrt, sein moralisches Glaubensbekenntnis hält er wie ein Banner vor sich und leuchtet gleißend im elendsten Viertel der Stadt. Sein Leben wäre um so vieles erträglicher, wenn er sich den Gaunern angeschlossen hätte, wenn er sich sein Abendbrot illegal angeeignet hätte. Aber er trotzt diesen Verlockungen, kauert lieber verhungernd im Graben – der Autor wird sich schon etwas einfallen lassen, um ihn dort herauszuziehen. Dies nämlich soll als weiterer Kritikpunkt herhalten - diese überhäuften Zufälle, die den Handlungsverlauf steuern, zugunsten der Aufrechterhaltung gewisser Spannung, die aber leider entscheidend an Realitätsnähe einbüßen lassen.
Der Autor gibt sich viel Mühe, die Kinder in barbarischsten Verhältnissen zu beleuchten. Manchmal neigt er zu Übertreibungen, provoziert die Tränendrüse des Lesers, erhöht mit pathetischen Phrasen das Mitleid um den kleinen Bengel. Woher kommt der christliche Edelsinn des Oliver, der niemals ein freundlichen Blick empfangen, niemals ein gefälliges Wort gehört hat? Theoretisch müsste er sich doch ebenfalls zum Schurken entwickelt haben. Psychologisch unglaubwürdig, wie fast alle Figuren. Was hat Oliver an sich, dass ausgerechnet er der Auserwählte ist, der von der Straße gelesen wird, wimmelt es doch in den Parks von Knaben gleichen Schicksals? Und schließlich von jemanden, der in der Geschichte des Jungen verwickelt ist?
Die heimliche Heldin dieses Buches ist die Gangsterbraut Nancy, die aus dem üblichen Schwarz-Weiß-Schema Dickens heraussticht und so etwas wie menschliche Züge in sich trägt. Ihr hätte die Hauptrolle besser gestanden.
Dickens ist ein großer Erzähler mit viel Leidenschaft, doch was er erzählt ist leider ohne Hand und Fuß.
Gruß,
chip