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Bakker, Gerbrand - Oben ist es still




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Bakker, Gerbrand - Oben ist es still

Beitragvon Krümel » 21.04.2009, 12:05

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Oben wie unten ist es sehr still, ein ganz leiser Roman mit tiefer Wirkung.

Niederlande, in der Nähe von Amsterdam befindet sich ein kleiner Bauernhof mit Kühen, Schafen, Hühnern und zwei Eseln. Auf dem Anwesen wohnt Helmer mit seinem alten Vater zusammen.
Der Roman beginnt mit den Worten: “Ich habe Vater nach oben geschafft.” Helmer trägt nicht nur seinen gebrechlichen Vater nach oben, sondern auch das alte Bild mit den schwarzen Schafen, die Standuhr, die Familienfotos und die alten Möbel. Unten beginnt er zu renovieren, reißt den uralten Teppich heraus, streicht die Dielen sowie die Fensterrahmen. Er bestellt sich sogar für sein neues Schlafzimmer, das ehemalige Elternschlafzimmer, ein neues Bett. Ein Befreiungsschlag!
Denn Helmer wollte gar nicht Bauer werden. Er hat nach dem Abitur Literaturwissenschaft studiert bis an den Tag als sein Zwillingsbruder Henk starb. „Jetzt bist du der Bauer.“
Nur noch halb anwesend begibt sich Helmer in dieses Schicksal. Doch jetzt ist er Mitte 50 und nur die zwei Esel entspringen seinen Wünschen. Er mag keine Kühe, und Schafe sind dumm. Morgens melken und füttern, abends melken und füttern. Im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und im Winter.

“Ich habe Vater nach oben geschafft.”

Der Roman spiegelt eine trostlose Verlassenheit, und ist in einer ganz kargen Sprache geschrieben, aber diese Ödnis hätte er anders nicht besser verdeutlichen können. Eigentlich ist alles tot: Oben die Toten und der Vater, der schon ein bisschen tot ist, und unten der Lebendige, der aber auch schon halb tot ist. Aber durch den Akt, die Toten nach oben zu bringen, kann sich Helmer in ganz kleinen Schritten etwas befreien, die ganze Last kann er jedoch nicht abwerfen.

Ein wunderbares Roman-Debüt von Bakker, bei dem man hoffen darf, dass da noch einige weitere gute Bücher folgen werden. Lediglich einen Schönheitsfehler besitzt das Werk, dass nämlich eineiige Zwillinge nie so verschieden sind. Dennoch sehr empfehlenswert!

Gerbrand Bakker wurde 1962 geboren, studierte niederländische Sprach- und Literaturwissenschaft in Amsterdam, arbeitete als Übersetzer und besitzt auch ein Diplom als Gärtner. Bisher hat er ein etymologisches Wörterbuch herausgebracht.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern: / :stern:
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von Anzeige » 21.04.2009, 12:05

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Beitragvon Pippilotta » 12.09.2009, 17:09

Von diesem Buch geht ein ganz besonderer Charme aus. Nüchtern und karg, fast monoton wird von Helmer erzählt und spiegelt so das triste und monotone Leben des Protagonisten am abgelegenen Bauernhof wieder. Hin und wieder ein wortkarger Dialog mit der Nachbarin, hin und wieder eine Fahrt ins Dorf um Zigaretten, ansonsten gleicht jeder Tag dem anderen. Der Leser fühlt sich von der ersten Seite an in diese "Einschicht" versetzt, so authentisch und treffend wird der Alltagstrott, die Atmosphäre, die Landschaft, das Leben mit den Tieren geschildert. Man fühlt und lebt mit Helmer, teilt mit ihm die Einsamkeit und das Schicksal. Helmer, der sich zeit seines Lebens zurückgesetzt fühlte, immer eher geduldet als angenommen, muss nach dem Tod seines Zwillingsbruders (der zugleich seine Identität war) in dessen Fußstapfen treten mit dem Wissen, niemals die Erwartungen erfüllen zu können. Seine eigenen Träume vom Literaturstudium, vom Leben in der Stadt mussten von einem Tag auf den anderen begraben werden. Und dann ist da noch diese Sehnsucht nach Dänemark!

Lediglich einen Schönheitsfehler besitzt das Werk, dass nämlich eineiige Zwillinge nie so verschieden sind.


ist es so, dass eineiige Zwillinge auch von Natur aus charaktergleich sind? Ich habe eineiigie Kusinen, die sind eigentlich vom Charakter auch sehr verschieden, eher wie Geschwister, da findet man ja auch verschiedene Temperamente in einer Familie (ich weiß, wovon ich rede 8) ). Henk ging alles leichter von der Hand, hatte vielleicht ein offeneres Wesen, er zeigte vielleicht von Anfang an mehr Interesse am Bauernhof und an der Arbeit und erwarb sich so die Gunst seines Vaters.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
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Beitragvon Krümel » 12.09.2009, 22:43

Pippilotta hat geschrieben:ist es so, dass eineiige Zwillinge auch von Natur aus charaktergleich sind?


Ich habe als Kind drei Zwillingspärchen gekannt, die waren sehr gleich im Charakter und Temperament, und ich habe auch ein Buch über Zwillingsforschung gelesen, die sich sogar gar nicht kannten oder auseinander gerissen worden, die auch sehr gleich waren. Also für mich sind eineiige Zwilling sehr identisch :wink:

Aber klasse ist doch, dass wir beide das Buch sehr mochten :D
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Re: Bakker, Gerbrand - Oben ist es still

Beitragvon Casoubon » 13.09.2010, 16:30

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, bin ich auf das Buch durch unseren Pfarrer aufmerksam geworden, der darauf seine Predigt aufgebaut hatte.

Am Anfang war ich etwas skeptisch bzw. fand ich die Atmosphäre des Buches ziemlich beklemmend - teilweise wollte ich nicht weiterlesen. Dem Autoren gelingt es sehr gut, die Atmosphäre des Hofes zu beschreiben, ohne viel Worte zu benutzen.

Es ist ein leises Buch, in dem scheinbar kaum etwas passiert und dennoch fand ich die Handlung sehr fesselnd. Es war sehr spannend, die Entwicklung von Helmer zu verfolgen, mit ihm gemeinsam in die Vergangenheit zu reisen und somit einen Einblick zu bekommen, warum sein Leben so verlaufen ist.

Eine Entdeckung für mich :D.

LG
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Re: Bakker, Gerbrand - Oben ist es still

Beitragvon Krümel » 13.09.2010, 18:13

Es gibt schon was Neues von ihm:

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Und auch schon ein etwas Älteres:

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