Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen

Beitragvon mombour » 30.09.2011, 14:51

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen

Bild

In unserer Familie bin ich manchmal schief angesehen worden, wenn ich es wagte, das Wort „Scheiße“ in den Mund zu nehmen. Entschuldigt diesen einleitenden Satz, aber ich komme gleich zum Roman. Für mich hat es nie einen Grund gegeben, dieses Wort nicht zu benutzen, wenn es einen Grund dafür gegeben hatte. Wenn der Roman von Angelika Klüssendorf mit dem Euphemismus Scheibenkleister“ begonnen hätte, wäre es ein derber Fehlstart gewesen, denn nur das Wort „Scheiße“, mit dem der Roman beginnt, kann aussagen was gemeint ist. Die Kindheit des Mädchens, das unter Verwahrlosung und Gewalt aufwächst ist „Scheiße“, und im übertragenden Sinn ist auch die DDR gemeint, obwohl Verwahrlosung in Westdeutschland und in anderen Ländern genauso möglich ist.

Zu Beginn des Romans fliegen wirklich Exkremente „durch die Luft“ und all das „landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.“

Seit Tagen sind das 12 jährige Mädchen und der sechsjährigen Bruder Alex in der Wohnung eingeschlossen. Da die Toiletten in diesen DDR-Mietshäusern immer ein halbes Stockwerk tiefer sind, müssen sie ihre Ausscheidungen in einem Eimer sammeln. Die Wohnung verdreckt, ein halbe Müllhalde, in der offenbar noch ein Fernseher funktioniert, denn aus dem Fernseher weiß das Mädchen, wie sich Frauen vor den Männern zeigen, wie sie sich halbnackig zeigen, um ihnen zu gefallen. Mit Büstenhalter, rotem Spitzenhöschen und knallrotem Lippenstiftmund bewegt sie sich vor dem Fenster und weiß, dass die Arbeiter aus der Werkzeugfabrik, die gleich Pause haben, zu ihr hinaufschauen werden. Dieses erste Kapitel schon zeigt in bitterer Realität die Verwahrlosung unmittelbarer Umgebung des geschlossenen Raumes und die geistige Verwahrlosung, fehlgeleitete Vorstellung ihrer Identität als künftige Frau durch die sexualisierte Präsentation des weiblichen Geschlechts unkontrolliert aus der Flimmerkiste eingetrichtert (dass sie dauernd vor dem Fernseher hängt, ist nur ganz herrlich fein angedeutet). Der Vater, betrunken, meist gar nicht zu Hause schlägt seine Frau, die Mutter prügelt mit einem Ledergürtel auf das Mädchen ein, die Schwester gibt Watschen an ihren Bruder weiter. Hier ist wirklich gar nichts mehr übrig, was wir als sozial bezeichnen würden. Man mag so etwas wie soziales Chaos bezeichnen. Alles, wirklich alles, gerät aus den Fugen. Der blondgelockte Bruder ist ein Liebling der Mutter und wird in den Augen der Mutter zum bösen Bastard, wenn sie ihre brutale Gewalt an ihm auslässt. Der Verwahrlosung dieser Menschen wird der ramponierte Zustand des Hauses gegenübergestellt, meines Erachtens ein deutlicher Hinweis dafür, dass hier Verwahrlosung als Metapher die ganze DDR als ein ziemlich desolater Staat gemeint ist. Insuffizient, brüchig, kurz und gut so, wie das erste Wort des Romans. Der Text um das brüchige Haus ist ein sehr schönes Beispiel für die Lakonie des Romantextes.

Klüsendorf hat geschrieben:Das Haus unterscheidet sich nicht von den anderen Häusern in der Straße, Rußflecke, Einschusslöcher aus dem Krieg, abblätternder Putz.


Lest nach dem ersten Kapitel weiter, wenn ihr noch Nerven dazu habt, denn der Roman ist in seiner lakonischen Art wirklich gut geschrieben. Direkt bezieht sich auf die realistische, ehrliche Darstellung der Misere und vergessen wir jeden Anflug von illusionärer DDR – Romantik. Es war ein Graus damals, nichts anderes. Als das Mädchen ins Heim kommt, erzählen ihr die anderen Mädchen von ihren grausamen Erlebnissen zu Hause. Wenn sie das hört, „erscheint ihr das eigene Schicksal weniger schlimm, die erlebten Demütigungen fast bedeutungslos.“

Es ist schon ein Wunder, dass das Mädchen in dieser Düsternis Strategien entwickelt, um der Hölle zu entkommen. Sie wird von der Mutter geschlagen, und aus Brehms Tierleben kennt sie den Goliathkäfer.

Klüssendorf hat geschrieben:„Sie stellt sich vor, sie hätte seine Flügel und könnte weit weg fliegen.“

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Liebe Grüße
mombour
Zuletzt geändert von mombour am 02.10.2011, 02:22, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe
mombour
Der Poet
Der Poet
 
Beiträge: 762
Registriert: 30.11.2009, 09:06
Wohnort: Regensburg

von Anzeige » 30.09.2011, 14:51

Anzeige
 

Re: Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen

Beitragvon Pippilotta » 30.09.2011, 16:38

Herzlichen Dank, @mombour, für Deine Eindrücke! ich werde das Buch auf jeden Fall im Auge behalten und bestimmt irgendwann lesen, auch wenn es - wie Du ja schon irgendwo angedeutet hattest - sehr starker Tobak zu sein scheint.
Herzliche Grüße
Pippilotta


T.C. Boyle - Wenn das Schlachten vorbei ist

Life is what happens to you while you are busy making other plans (Henry Miller)
Benutzeravatar
Pippilotta
Superkrümel
Superkrümel
 
Beiträge: 4894
Registriert: 19.04.2006, 16:52
Wohnort: ... im Himmel ...

Re: Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen

Beitragvon Krümel » 04.11.2011, 11:03

Ist nun im Blog :D
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Re: Klüssendorf, Angelika - Das Mädchen

Beitragvon Casoubon » 21.11.2011, 21:44

Mich hat dieses Buch fasziniert, abgeschreckt, verwirrt, angeekelt - alles in einem "Arbeitsgang" - aber irgendwie hat es keine Spuren bei mir hinterlassen ...
Das Leben ist nicht grausam
das Leben ist nicht zart
das Leben ist gedankenlos
reine Gegenwart (H.R. Kunze)
Benutzeravatar
Casoubon
Krümel
Krümel
 
Beiträge: 872
Registriert: 13.11.2008, 13:50
Wohnort: Glauchau



Ähnliche Beiträge


TAGS

Zurück zu Zeitgenössische-Literatur

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron