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Köhlmeier, Michael - Abendland




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Köhlmeier, Michael - Abendland

Beitragvon Krümel » 27.08.2009, 09:59

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Ein unglücklich verpatzter Roman.

Direkt zu Beginn bin ich über eine ungewöhnliche Situation gestolpert. Da ist ein alter Mann, Carl, der sein Leben für die Nachwelt festgehalten haben möchte. Aufgrund seines hohen Alters beauftragt er sein Patenkind, der zufälligerweise Schriftsteller ist, dieses Unterfangen für ihn zu übernehmen. Sebastian macht sich an die Arbeit und beginnt zu berichten: Carl sei der Schutzengel seines Vaters, weil dieser ein Musik-Genie ist, den Carl in einer Kneipe getroffen hat und es für sofort klar ist, dass er einen solchen Musiker fördern möchte, ihn zum Star machen möchte. Daraufhin folgt ein langer Exkurs über die Entwicklung des Jazz, berühmte Jazzer werden vorgestellt, Varianten und Themen werden angerissen usw… Aber wer kommt nicht zum Zug?
Die Situation erinnerte mich an einem Patienten, der zum Psychiater geht, sich auf die Couch legt, und dann spricht der Therapeut. Und spricht, und spricht, und hört gar nicht mehr auf zu sprechen.

Sebastian hat unter der Ehe seiner Eltern sehr gelitten. Carl und seine Mutter waren nur für das Musik-Genie da, und er als kleiner Bub hielt wohlwollend fürsorgliche Reden: „Papa, bitte versprich mir nicht mehr so viel zu trinken.“ Woraufhin sein Vater mit einem Tobsuchtsanfall reagiert und nochmal so viel säuft.

Ferner hatte Sebastian zwei Väter, das Genie und den Mann, der die Fäden über die Familie spannte. Carl war ein sehr reicher Mann. Sein Vater tätigte auf der ganzen Welt Geschäfte und hinterließ ihm ein Vermögen. Die Lukasser wurden von Carl in jeder Hinsicht protegiert und finanziell unterstützt.

Im dritten Teil des Buches erleben wir einen Sebastian „allein in Amerika“, der sich beginnt frei zu strampeln, der selbstbewusster wird und autark wirkt. Bis er zum Ende des Abschnittes wieder vom Marionettenspieler zurück nach Wien beordert wird.

Wer ist Carl? Der Patient, der auf der Couch liegt, und uns so fremd bleibt. Eine Schattenfigur.

Unglücklich gemacht ist auch, dass Köhlmeier im ersten Teil das Interesse des Lesers zu konzentriert um Carl spannt. Denn im zweiten Teil des Werks entpuppt es sich zusätzlich zu einer Chronik des 20. Jahrhunderts. Immer wieder werden lange geschichtliche Ereignisse eingefügt (Musik, Judentum, Heiligsprechung, Rassismus, RAF u.a.). Diese Einschübe sind allerdings derart subjektiv geprägt, so dass man sie weder kritisieren kann noch diskussionsfähig wären; sie entfernen sich nur meilenweit vom Spannungsbogen …

Carl stirbt, das ist schon auf den ersten Seiten ersichtlich.
Aber vorher schiebt uns Köhlmeier noch einen Ausflug in die Kolonialgeschichte Afrikas unter! Und wer ist Carl?

Ein Fremder, den ich sehr gerne kennen gelernt hätte, was mir aber verwehrt wurde. Nur grobe Eindrücke und Äußerlichkeiten habe ich über ihn erhalten, aber warum er zum Marionettenspieler wurde nicht.

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg/Lahn sowie Philosophie und Mathematik in Gießen. Er lebt als freier Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien.

Bewertung: :stern: :stern: :stern:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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von Anzeige » 27.08.2009, 09:59

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