von chip » 13.05.2008, 18:48
Siggi Jepsen ist 1954 in einer Anstalt für schwer erziehbare Jungen, als er von der Leitung die Aufgabe erhält, einen Aufsatz zu verfassen mit dem Thema „Freude an der Pflicht“. Vor sich hinbrütend, drängen sich Szenen aus seiner Kindheit auf, er erinnert sich an seinen pflichtbewussten Vater im hohen Norden. Doch es ist ihm unmöglich, in der Lawine herabstürzender Erinnerungen einen Anfang zu finden und er beendet seine Arbeit, ohne ein Wort zu Papier gebracht zu haben. Der Lehrer sieht darin einen Ausdruck von Aufsässigkeit und veranlasst eine bewährte Züchtigungsmethode, indem er Siggi in einen Raum sperrt, ohne Besuch von draußen. Ein kleiner Raum, ausgestattet mit einem Pult, einen Stuhl und einem Bett. Dort wird er bleiben, bis sein Aufsatz beendet ist, dort kann er sich ausgiebig seinen Erinnerungen widmen.
Hier beginnt nun die eigentliche Geschichte vom damals 9-jährigen Jungen, der inmitten des 2. Weltkriegs Zeuge eines Streites wird, zwischen seinem Vater und dem Maler Nansen aus der Nachbarschaft. Der Vater ist Polizist, Handlanger des SS-Regimes, der in der Funktion für Staatssicherheit nur eine unbedeutende Rolle einnimmt, sie aber umso zielstrebiger und gewissenhafter ausführt. Als er den Befehl bekommt das Malverbot zu überwachen, geht er unbarmherzig mit Nansen um, lässt ihn von Siggi beobachten, droht ihm mit Verrat, der Zerstörung seiner Bilder und Nansens Auslieferung an die oberen Instanzen. Dass Nansen dem Polizisten einst das Leben rettete, interessiert ihn nicht. Die Pflicht muss erfüllt werden, ohne eigene Meinung, ohne persönliche Einschätzung der Lage, ohne moralische Bedenken.
„Ich frage nich, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nich nach Laune tun oder wie es einem die Vorsicht eingibt, wenn du mich verstehst. Er zog sich die Jacke an, knöpfte sie zu und ging an den Tisch heran, an dem Brodersen saß. Es hat manch einen gegeben, sagte der alte Postbote, den hat es bewahrt, weil er zur rechten Zeit nicht seine Pflicht getan hat. – Dann hat er nie seine Pflicht getan, sagte mein Vater trocken.“
Polizeiposten Rugbüll ist ein Mitläufer, dessen Gesinnung seinem Sohn zu schaffen macht. Schon sein älterer Bruder Klaas wurde vom Vater ausgestoßen, weil er sich mittels Selbstverstümmelung der Kriegsbeteiligung entzogen hat und demnach seiner Pflicht nicht nachkam. Die Freundschaft zum Maler bewegt Siggi dazu, sich im Streit einzumischen, Nansens Bilder vor der Zerstörung zu schützen und zu verstecken. Auf dem Dachboden der nahe gelegenen Mühle deponiert er sämtliche beschlagnahmte Werke seines Freundes.
Ein Zeitsprung, der Krieg ist beendet, doch der Polizist hält an seiner Pflicht fest, auch wenn die Auftraggeber nicht mehr existieren. Beide, Vater und Sohn, schaffen es nicht, die neuen Umstände zu akzeptieren. Beide befinden sich noch im Krieg, der Vater überwacht und vernichtet, Siggi beschützt die Bilder, selbst noch, als längst keine Notwendigkeit mehr dazu besteht.
„Dort auf der Halbinsel, vor den Resten des Feuers, begann ich mich vor ihm zu fürchten, und zwar nicht vor seiner Kraft oder seiner List oder Hartnäckigkeit, sondern vor seiner ihn bewohnenden Unbeirrbarkeit; diese Furcht war stärker als der Hass, der auf einmal da war und mir riet, mich auf ihn zu stürzen und seine Schenkel und Hüften mit den Fäusten zu bearbeiten. Diese stierende Zufriedenheit! Diese schlimme Ruhe in ihm.“
Siegfried Lenz schafft hier einen bildgewaltigen, epischen Roman, der Umstände sehr minutiös beschreibt. Dieses Plus ist gleichzeitig auch ein Kritikpunkt, denn er wird mir manchmal zu ausführlich. Hier wird nicht einfach eine Jacke angezogen, sie wird Knopf für Knopf zugeknöpft, eventuell noch von Fusseln befreit. Auch werden die Kreise um die Handlung immer breiter gezogen, mit der Gefahr, die Geschichte aus den Augen zu verlieren. Viele Stellen und Absätze tragen einfach die Geschichte nicht, haben grob betrachtet auch nichts im Buch verloren. Lenz hat hier einen Hang zum Ausschmücken, der ins besondere im letzten Drittel sehr spürbar wird. Keinesfalls möchte ich diesen Teil als zäh bezeichnen, denn Sprache und Aufbau sind fesselnd und spannend. Er schafft es eben doch, die Spannung anhand offener Fragen äußerst lange aufrecht zu halten.
Ihm lag wohl auch nichts daran, den Zeitgeist einzufangen. Es ist mangels dieser Eigenschaft also kein historisches Zeugnis, ihm liegt vielmehr das Thema "Pflichtbewusstsein" am Herzen, ohne dabei das moralische Missfallen aus den Augen zu verlieren. Hier wird die Pflicht aus verschiedenen Deutungen vorgestellt: einmal aus Sicht des Vaters, der wahrhaftige Freude an der Pflicht zeigt, ohne sie zu hinterfragen und sie bis zur Besessenheit ausführt; aus der Sicht des Malers, der seinen Beruf aus innerem Pflichtgefühl trotz Verbot fortsetzt und diese als Protest seiner Zeit betrachtet; und zuletzt Siggi, der eine gewisse Freude an seine Pflichtarbeit im Erziehungsheim entwickelt. Hier bleibt dem Leser überlassen, auf welcher Seite er sich festlegt.
Gruß,
chip