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Lenz, Siegfried - Deutschstunde




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Lenz, Siegfried - Deutschstunde

Beitragvon Krümel » 07.05.2008, 11:26

Bild

Ein perfekt durchdachtes Werk mit vielen interessanten Motiven! (Ich werde nur das Leitmotiv erwähnen.)

Siggi, der Erzähler, erzählt uns seine Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven heraus. In der Rahmenhandlung sitzt er als Jugendlicher in einer Anstalt für schwererziehbare Jungs ein. Zu Beginn der Lektüre erfährt der Leser nicht, weshalb Siggi dort einsitzt, noch die Jahreszahl, und ob sich diese Handlung noch während des zweiten Weltkrieges oder danach abspielt. Und so baut sich von Anfang an einen Berg von Fragen auf, und steigert damit die Spannung.
Siggi muss zu dieser Zeit eine Strafarbeit schreiben. Das Thema lautet: “Freude an der Pflicht”, was zugleich auch der rote Faden ist, der sich durch den ganzen Roman zieht.
Den Aufsatz den er dann schreibt beginnt mit dem Jahr 1943, seine Kindheitserinnerungen, die die Binnengeschichte ausmacht.

Sein Vater ist Polizist von Rugbüll oben an der dänischen Grenze. Dieser fährt bei Wind und Wetter mit seinem Fahrrad die Gegend ab, fährt über die Deiche und erkämpft sich mühsam die Höhenunterschiede. Ab und an sitzt Siggi mit auf dem Fahrrad und begleitet seinem Vater. Bei dem Maler Max machen sie oft Halt und plaudern eine Weile, aber 1943 muss der Vater dem Maler eine andere Botschaft aus Berlin übermitteln: Max darf nicht mehr malen, er hat Malverbot!

Aus dieser Situation heraus entwickelt jetzt Lenz seine Absicht. Er erläutert anhand dieser drei Figuren das Wort “Pflicht” und dessen Bedeutung ohne dabei zu werten.
Der Vater spiegelt dabei die Rolle des Pflichtbewusstseins, der seine Erfüllung nur in der Pflichtausübung finden kann, pflichterfüllt ist, und diese Eifer grenzt an Verantwortungslosigkeit. “Freude an der Pflicht” wird hier zum Fatalismus, und lässt damit dem Faschismus Einzug, auch über seine eigene Persönlichkeit.

“Die Freude an der Pflicht” empfindet der Maler Max beim Malen, wenn man das überhaupt als Pflicht bezeichnen kann, denn es ist seine Lebensphilosophie. Über äußere Pflichten setzt sich diese Figur hinweg, und folgt seinem Inneren.

Als Kind ständig hin und her gerissen, zwischen dem langjährigen Freund Max, und dem strengen Pflichtbewusstsein seines Vaters; Siggi vernichtet die Bilder mit und rettet sie auch teilweise; entwickelt er nun seine “Freude an der Pflicht”.

Der erste Teil des Buches hat mir ausgezeichnet gut gefallen, der Mittlere hatte seine Längen, und der Schluss war etwas zu abrupt. Aber durch dieses Ende liefert der Roman sehr viel Diskussionsstoff. Insgesamt mochte ich das Werk gerne lesen, es hat mir viele nachdenkliche Stunden gebracht, und sprachlich bin ich auf meine Kosten gekommen.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
Schwierigkeitsgrad: leicht bis mittel
BildLiebe Grüße,
Krümel



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von Anzeige » 07.05.2008, 11:26

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Beitragvon chip » 13.05.2008, 18:48

Siggi Jepsen ist 1954 in einer Anstalt für schwer erziehbare Jungen, als er von der Leitung die Aufgabe erhält, einen Aufsatz zu verfassen mit dem Thema „Freude an der Pflicht“. Vor sich hinbrütend, drängen sich Szenen aus seiner Kindheit auf, er erinnert sich an seinen pflichtbewussten Vater im hohen Norden. Doch es ist ihm unmöglich, in der Lawine herabstürzender Erinnerungen einen Anfang zu finden und er beendet seine Arbeit, ohne ein Wort zu Papier gebracht zu haben. Der Lehrer sieht darin einen Ausdruck von Aufsässigkeit und veranlasst eine bewährte Züchtigungsmethode, indem er Siggi in einen Raum sperrt, ohne Besuch von draußen. Ein kleiner Raum, ausgestattet mit einem Pult, einen Stuhl und einem Bett. Dort wird er bleiben, bis sein Aufsatz beendet ist, dort kann er sich ausgiebig seinen Erinnerungen widmen.

Hier beginnt nun die eigentliche Geschichte vom damals 9-jährigen Jungen, der inmitten des 2. Weltkriegs Zeuge eines Streites wird, zwischen seinem Vater und dem Maler Nansen aus der Nachbarschaft. Der Vater ist Polizist, Handlanger des SS-Regimes, der in der Funktion für Staatssicherheit nur eine unbedeutende Rolle einnimmt, sie aber umso zielstrebiger und gewissenhafter ausführt. Als er den Befehl bekommt das Malverbot zu überwachen, geht er unbarmherzig mit Nansen um, lässt ihn von Siggi beobachten, droht ihm mit Verrat, der Zerstörung seiner Bilder und Nansens Auslieferung an die oberen Instanzen. Dass Nansen dem Polizisten einst das Leben rettete, interessiert ihn nicht. Die Pflicht muss erfüllt werden, ohne eigene Meinung, ohne persönliche Einschätzung der Lage, ohne moralische Bedenken.

„Ich frage nich, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nich nach Laune tun oder wie es einem die Vorsicht eingibt, wenn du mich verstehst. Er zog sich die Jacke an, knöpfte sie zu und ging an den Tisch heran, an dem Brodersen saß. Es hat manch einen gegeben, sagte der alte Postbote, den hat es bewahrt, weil er zur rechten Zeit nicht seine Pflicht getan hat. – Dann hat er nie seine Pflicht getan, sagte mein Vater trocken.“

Polizeiposten Rugbüll ist ein Mitläufer, dessen Gesinnung seinem Sohn zu schaffen macht. Schon sein älterer Bruder Klaas wurde vom Vater ausgestoßen, weil er sich mittels Selbstverstümmelung der Kriegsbeteiligung entzogen hat und demnach seiner Pflicht nicht nachkam. Die Freundschaft zum Maler bewegt Siggi dazu, sich im Streit einzumischen, Nansens Bilder vor der Zerstörung zu schützen und zu verstecken. Auf dem Dachboden der nahe gelegenen Mühle deponiert er sämtliche beschlagnahmte Werke seines Freundes.

Ein Zeitsprung, der Krieg ist beendet, doch der Polizist hält an seiner Pflicht fest, auch wenn die Auftraggeber nicht mehr existieren. Beide, Vater und Sohn, schaffen es nicht, die neuen Umstände zu akzeptieren. Beide befinden sich noch im Krieg, der Vater überwacht und vernichtet, Siggi beschützt die Bilder, selbst noch, als längst keine Notwendigkeit mehr dazu besteht.

„Dort auf der Halbinsel, vor den Resten des Feuers, begann ich mich vor ihm zu fürchten, und zwar nicht vor seiner Kraft oder seiner List oder Hartnäckigkeit, sondern vor seiner ihn bewohnenden Unbeirrbarkeit; diese Furcht war stärker als der Hass, der auf einmal da war und mir riet, mich auf ihn zu stürzen und seine Schenkel und Hüften mit den Fäusten zu bearbeiten. Diese stierende Zufriedenheit! Diese schlimme Ruhe in ihm.“

Siegfried Lenz schafft hier einen bildgewaltigen, epischen Roman, der Umstände sehr minutiös beschreibt. Dieses Plus ist gleichzeitig auch ein Kritikpunkt, denn er wird mir manchmal zu ausführlich. Hier wird nicht einfach eine Jacke angezogen, sie wird Knopf für Knopf zugeknöpft, eventuell noch von Fusseln befreit. Auch werden die Kreise um die Handlung immer breiter gezogen, mit der Gefahr, die Geschichte aus den Augen zu verlieren. Viele Stellen und Absätze tragen einfach die Geschichte nicht, haben grob betrachtet auch nichts im Buch verloren. Lenz hat hier einen Hang zum Ausschmücken, der ins besondere im letzten Drittel sehr spürbar wird. Keinesfalls möchte ich diesen Teil als zäh bezeichnen, denn Sprache und Aufbau sind fesselnd und spannend. Er schafft es eben doch, die Spannung anhand offener Fragen äußerst lange aufrecht zu halten.

Ihm lag wohl auch nichts daran, den Zeitgeist einzufangen. Es ist mangels dieser Eigenschaft also kein historisches Zeugnis, ihm liegt vielmehr das Thema "Pflichtbewusstsein" am Herzen, ohne dabei das moralische Missfallen aus den Augen zu verlieren. Hier wird die Pflicht aus verschiedenen Deutungen vorgestellt: einmal aus Sicht des Vaters, der wahrhaftige Freude an der Pflicht zeigt, ohne sie zu hinterfragen und sie bis zur Besessenheit ausführt; aus der Sicht des Malers, der seinen Beruf aus innerem Pflichtgefühl trotz Verbot fortsetzt und diese als Protest seiner Zeit betrachtet; und zuletzt Siggi, der eine gewisse Freude an seine Pflichtarbeit im Erziehungsheim entwickelt. Hier bleibt dem Leser überlassen, auf welcher Seite er sich festlegt.

Gruß,
chip
chip
 

Beitragvon Krümel » 14.05.2008, 08:08

Wow, das ist eine klasse Rezi!

Also dieses Bild
Hier wird nicht einfach eine Jacke angezogen, sie wird Knopf für Knopf zugeknöpft, eventuell noch von Fusseln befreit.
finde ich einfach genial!

Chip wie schreibst du eigentlich deine Rezis? Nimmst du dir sehr viel Zeit dafür, oder kommt das einfach so? Schreibst du auch andere Dinge?
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon chip » 15.05.2008, 05:19

Hallo Krümel,
nu setz Dein Licht mal nicht unter dem Scheffel. Du schreibst sehr ansprechende Rezis und daher glaube ich nicht, dass ich beim Verfassen viel anders vorgehe als Du. Jeder von uns hat mit der Zeit seinen eigenen Stil entwickelt. Aber danke für die Blumen!

Um Deine Frage zu beantworten, ich mache mir keine Notizen während dem Lesen. Es werden lediglich einige Sätze markiert, die ich dann gegebenenfalls verwende. Dann setze ich mich hin und schreibe drauf los. Wenn nach einer Weile nichts Sinnvolles entsteht, versuch ich es später erneut. Dann überlege ich, welche Punkte in jedem Fall erwähnt werden müssen, es werden Sätze gestrichen, neu aufgesetzt, und nach etwa 2 Std. ist sie geschrieben. Tage später wird sie nochmals nachgelesen, damit man Fehler leichter erkennt. Tja, und dann wird sie veröffentlicht.

Habt ihr das auch, dass ihr flüssiger schreiben könnt, zu einer Zeit, wo ihr eigentlich ins Bett besser aufgehoben wärt? Bei mir ist es so, dass meine kreative Phase erwacht, wenn ich todmüde bin. Verrückt, oder?
Und nein, außer Rezis und Briefe schreibe ich nicht.

Gruß,
chip
chip
 

Beitragvon Kristina » 15.05.2008, 10:31

Ihr habt mich (mal wieder) neugierig gemacht, Krümel und Chip! Zwei exzellente Rezis. :flower:

chip hat geschrieben:Habt ihr das auch, dass ihr flüssiger schreiben könnt, zu einer Zeit, wo ihr eigentlich ins Bett besser aufgehoben wärt? Bei mir ist es so, dass meine kreative Phase erwacht, wenn ich todmüde bin. Verrückt, oder?

Das kenne ich ... :roll:

Nachts fühle ich mich auch weniger vom 'Alltag' abgelenkt; ich bin dann freier im Kopf. :-|
Kristina
 

Beitragvon Krümel » 27.05.2008, 15:39

Hier eine heftige Diskussion zur "Deutschstunde" :mrgreen:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon chip » 27.05.2008, 19:36

Was du nicht alles findest :D
chip
 

Beitragvon Pippilotta » 27.05.2008, 20:29

Ein toller Schlagabtausch! Amüsant und lehrreich! :clap:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Krümel » 27.05.2008, 20:42

Chip kannst du diese Gabi nicht rüber holen :wink:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon Karthause » 27.05.2008, 20:55

Ob die Diskussionen auch in beiden Foren geführt würden?
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon wolves » 28.05.2008, 07:41

karthause hat geschrieben:Ob die Diskussionen auch in beiden Foren geführt würden?

Das glaube ich auch nicht so wirklich :wink:

@Krümel: Nur zu, dort kannst du doch deine Klingen kreuzen. :thumright: Wenn du es nicht schon tust 8)

Und jetzt lese ich mir den Schlagabtausch mal in Ruhe durch. :D

Edit: Das ist ja einfach :clap: :clap: :clap: :thumleft: Da könnte ich nie und nimmer mithalten :oops: :oops: :oops:
Liebe Grüße
wolves


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