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Saramago, José - Das Zentrum




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Saramago, José - Das Zentrum

Beitragvon tom » 17.04.2007, 17:45

Original: A caverna (portugiesisch)

ZUM INHALT:
Cipriano Algor betreibt mit seiner Tochter eine kleine Töpferei und belieferte regelmäßig das „Zentrum“, ein moderner Einkaufskomplex (und mehr als das...) in der nahen Stadt, bis er eines Tages den Bescheid bekommt, dass seine Tonwaren nicht mehr gefragt sind: Plastik sei besser und man kündige ihm die Zusammenarbeit. Mit seiner Tochter, die mit einem „Wachtmann“ des Zentrums verheiratet ist und bei eventuell anstehender Beförderung bald in dieses ziehen soll, sucht er nach neuen Strategien.

ZUM AUTOR:
1922 geborener portugiesischer Literaturnobelpreisträger. Mehr unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Saramago

MEINE MEINUNG:
Nach Abbruch der „Geschichte der Stadt Lissabon“ (und im Nachhinein denke ich, dass man beim Verfremdungseffekt des Stiles Saramagos nicht auch noch das Ganze in einer fremden Sprache - für mich war das Französisch - lesen soll!) gab ich Saramago nochmals eine Chance und bin glücklich mit dem Schnäppchen! Ja, ich bin sehr begeistert von diesem Buch, das ich – ehrlich gesagt – auch zur Hand nahm, weil es um einen Töpfer ging. Hier kam mir der ungewohnte Stil Saramagos (fehlende Kennzeichnung der wörtlichen Rede und teilweise der Punktsetzung) plötzlich nicht mehr gekünstelt und schwerfällig vor, sondern in den Dialogen sogar teils erfrischend das Tempo beschleunigend, wenn das Lesen auch Aufmerksamkeit verlangt. Bei allem Ernst mancher Themen (Globalisierung bis hin zu einem kapitalistischenTotalitarismus; das Überholt- und Beiseitegeschobenwerden durch Trends in einer anonymen Gesellschaft) findet man doch auch eine gewisse Art Humor und eine tiefe Menschlichkeit in den familiären und Liebesbeziehungen, aber gar auch einer etwas besonderen Freundschaft mit einem gerade am Unglückstag auftauchenden Hund (ein schönes Plädoyer für diesen Begleiter). Die lakonische Sprache mag manchmal im Widerspruch stehen zur Ernsthaftigkeit, doch es ist wohl des Autors Art, sich so mit den Dingen auseinander zu setzen.
Manche mögen den Einflusses des „Zentrums“ auf das Leben der Menschen überzeichnet und gar grotesk finden, doch ich kann nicht umhin, da eine leise und berechtigte Kritik an möglichen Auswüchsen eines Systems zu unterscheiden.
Das Ende überrascht und überrascht doch auch nicht: welchen Weg „mit“ oder „gegen“ dieses System wählen?

Ein reiches Buch, auch in den angeschnittenen Ausführungen oft sehr anregend und viel versprechend: So sind z.B. die Details zur Arbeit eines Töpfers wirklich gut beschrieben und stehen dementsprechend für die Qualität der Schreibe und des Wissens des Autors. Hundeliebhaber finden – Augenzwinkern – ausgezeichnete Beobachtungen zum besten Freund des Menschen etc.

Für mich eine Versöhnung mit diesem Autor und eine neue Entdeckung! Prima!

:stern: :stern: :stern: :stern: /:stern:

ISBN: 978-3499233302
Bild
tom
 

von Anzeige » 17.04.2007, 17:45

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Beitragvon Pippilotta » 17.04.2007, 19:06

Mein erster Saramago war "Der Doppelgänger" und ich war eigentlich auch enttäuscht. Doch mit "Stadt der Blinden" hat mich Saramago total überzeugt. "Das Zentrum" (und "Das Memorial") habe ich auf meinem SUB, und die Entscheidung, welches zuerst drankommt, ist hiermit gefallen!
Danke für die Rezension, das Buch klingt sehr verlockend!

PS: ich habe mir erlaubt, die Bild-Verlinkung zu Amazon anzufügen!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon tom » 17.04.2007, 21:15

Ja, Pippilotta, wenn ich Saramago noch eine Chance gegeben habe, lag das ja größtenteils ... an Dir, denn ich hatte im BT Deine/Eure Beiträge zur Stadt der Blinden gesehen und eben als interessant befunden. Ich bin nie so recht zufrieden, wenn ich einem "großen Autor" (immerhin Nobelpreis...) nicht nochmals eine Chance gebe. Manchmal fällt man dann gut! Ich fand jetzt die gewwôhnungsbedürftige Sprache plötzlich nicht so gekünstelt wie bei meinem ersten Lesen eines Saramagos auf Französisch!
Vielleicht ist dieser 'Das Zentrum) als Spätwerk auch bei aller Groteske, Kafkaeskischen Anwandlung ein überaus menschlicher, uns wohl wirklich betreffender Roman?

(Ich darf Heidi ja eigentlich gar nicht verraten, dass meine ersten zwei Versuche mit Thomas Mann absolut daneben gingen..., bevor ich dann begeistert den Zauberberg las!)
tom
 

Re: Saramago, José - Das Zentrum

Beitragvon Katia » 17.09.2011, 17:08

Ich kann mich Tom anschließen: ein sehr gelungener Roman, mit Anklängen einer negativer Utopie und Kafkas "Schloss". Ein gewitzter Töpfer weigert sich sein Handwerk aufzugeben und zuzuschauen, wie die Welt Plastik mehr schätzt. Das (Einkaufs-)"Zentrum", ein bombastischer Bau, der nicht nur dem Konsum dient, sondern eine komplette Welt(anschauung) gleich mitliefert. Ein fast sektenartiges Gebilde, das Arbeit und Lebensqualität verspricht, um den Preis das Leben komplett am Zentrum auszurichten. Saramagos Charaktere gefallen mir in diesem Roman besonders, Cipriano allen voran, aber mit seiner Tochter und Isaura gelingen dem Autor auch zwei starke Frauencharaktere.
Der philosophisch angehauchte Schluss fügt sich für mich nicht ganz organisch in den Rest, macht nichts, Saramagos "Ohne-Punkt-und-Komma"-Sprache zieht in den Bann, so dass mich wie Cipriano die Entdeckerneugierde packte.

Unbedingte Empfehlung!

:stern: :stern: :stern: :stern: (:stern:)

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