Krümels-Bücherwelt ...

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Auster, Paul - Mann im Dunkel




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Auster, Paul - Mann im Dunkel

Beitragvon Pippilotta » 18.03.2009, 19:57

Amerika im Jahr 2007. Owen Brick erwacht in einem dunklen Erdloch. Wie er dort hineingeraten ist, weiß er nicht mehr. Der ihn befreiende Uniformierte erteilt ihm den Auftrag, in die nächste Stadt zu gehen und jenen Mann zu erschießen, der den momentan tobenden amerikanischen Bürgerkrieg verursacht hat. Owen Brick sieht sich in einem Amerika, das er nicht kennt. Es gab kein 9/11, es gibt keinen Irak-Krieg. Stattdessen herrscht innerhalb der Staaten ein zermürbender Bürgerkrieg. Und jener Mann, der als Urheber dieses Bürgerkriegs bezeichnet wird, ist niemand anderer als der Schriftsteller August Brill, der in seinen schlaflosen Nächten die Figur des Owen Brick und die Geschichte jenes utopischen Amerikas erfunden hat. Der Kreis schließt sich, Fiktion und Realität verweben sich immer mehr. August Brill ist 72, verwitweter Literaturkritiker, lebt mit seiner Tochter Miriam und seiner Enkelin Katya im Haus seiner Tochter. Seit seinem Autounfall sitzt er im Rollstuhl bzw. ist er ans Bett gefesselt. Seine Frau Sonia starb vor einigen Jahren an Krebs, seine Tochter wurde nach vielen Jahren Ehe von ihrem Mann Richard verlassen, Katyas Lebensgefährte Titus ist verstorben. Auf welche (grausame) Art, erfährt man am Ende des Buches. Alle drei haben Schicksalsschläge zu verarbeiten, Fehltritte zu bereuen und Verluste zu beklagen, jeder der drei macht dies auf seine eigene Art. Während August in seinen schlaflosen Nächten Geschichten wie die obige erfindet, (um die Gedanken an die Vergangenheit zu vertreiben), zieht sich seine Enkeltochter einen Film nach dem anderen rein (um in ihrem Kopf herumgeisternde Bilder zu übertünchen) und investiert seine Tochter ihre ganze Aufmerksamkeit in das Schreiben einer Biografie über die Frau von Nathaniel Hawthorne (um zu beweisen, dass man auch im Alter seinem Leben noch Sinn geben kann).

Man kann zu den „alten Herren“ Amerikas (ich denke da an Roth, Auster, Updike, Irving, etc.) stehen wie man will: Ihr Handwerk verstehen sie! Genial, wie die Parallelwelten ineinanderfließen, wie sich reale Personen in der von August Brill erfundenen Geschichte wiederfinden, die Vergangenheit und die momentane Situation bewältigt werden und zugleich Kritik an Amerikas Innen- u. Außenpolitik geübt wird. Berührend die Beziehung zu seiner Tochter und seiner Enkelin, die ebenfalls große Verluste zu bewältigen haben und auf ihre Art versuchen, damit fertig zu werden. Das Lesen dieses Buches gleicht einer Achterbahnfahrt der Gefühle, hin- und hergerissen zwischen todtraurig, hoffnungsvoll-tröstend, unheimlich liebevoll, bewegend und dann wieder grausam-schockierend, erzählt mit einer unfassbaren Leichtigkeit. Ein Buch, das mich tief berührt und bewegt hat, ein geniales Buch.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern: :thumleft: :thumleft:

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Beitragvon Siebenstein » 18.03.2009, 22:18

Wenn ich auch bisher kein übermäßig großer Fan von Auster bin, hat mich deine Rezi doch neugierig gemacht, danke Pippi. :thumright:

Habe gerade festgestellt, dass meine Bücherei das Buch im Bestand hat, es ist sogar vorrätig. :D

Herzliche Grüße
Siebenstein :wink:
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Beitragvon Pippilotta » 19.03.2009, 05:55

@Siebenstein: ich habe zwar noch nicht viel von Auster gelesen, aber bisher konnte ich mich auch nicht so begeistern. Aber dieses Buch hat es geschafft!
Herzliche Grüße
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Beitragvon Krümel » 05.04.2009, 09:11

Kann die Rezi morgen ins Blog :?:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon Pippilotta » 05.04.2009, 09:31

Siherlich! :wink:
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Beitragvon Sybille » 05.04.2009, 11:43

Mir hat es auch sehr gut gefallen!!!!
Liebe Grüße, Sybille
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Beitragvon Sybille » 18.04.2009, 08:12

@ Pippi: wenn Dir Austers Spiel mit den fiktionalen Figuren gut gefallen hat könnte Dir "Ruhm" von Daniel Kehlmann auch sehr gut gefallen. Er spielt ebenfalls damit, dass die Figuren eine eigene Realität entwickeln und verknüpft die Geschichten mit teils sehr witzigen Effekten untereinander. Ich musste mehrfach bei der Lektüre losglucksen weil es einfach zu schön war...
Liebe Grüße, Sybille
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Beitragvon Pippilotta » 18.04.2009, 11:43

Danke, Sybille, für den Tipp .... ich habe Ruhm bereits gelesen (nur noch keine Rezi geschrieben ....). Es hat mir sehr gut gefallen, und es stimmt, es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Auster!
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon marilu » 29.08.2009, 21:18

Angeregt durch die potentielle Auster-Leserunde habe ich mich an Paul Auster erinnert und letzten Samstag "Man in the dark" in der Bibliothek ausgeliehen und bereits Sonntag abend ausgelesen.

Dieser Roman ist definitiv einer der bemerkenswerten Auster-Romane! :clap: Nachdem ich mit "Nacht des Orakels" Probleme hatte, dachte ich, nicht zurueck zu meiner urspruenglichen Begeisterung fuer den Autor zu finden, doch zum Glueck hat mich "Mann im Dunkel" wieder so faszieniert wie z. B. schon "Mr. Vertigo" oder "Mond ueber Manhattan".

Zum Inhalt kann ich nichts hinzufuegen und schliesse mich auch sonst Pipilottas Einschaetzung an. Der Roman im Roman hat mich besonders fasziniert. Wenn ich einen Roman lese, moechte ich gern in der Geschichte fiktiven Realitaet abtauchen, doch Auster spielt geschickt mit diesem Leseverhalten. Jedesmal, wenn man in Augusts Gegenwart eintaucht und sich einrichtet, laesst er Owen Brick sprechen - doch auch andersrum erlebt man als Leser den abrupten Wechsel. Dadurch wurde ich bestaendig daran erinnert Fiktion in einer Fiktion zu lesen. Eine eigentuemliche distanzierende Erfahrung, die jedoch mit dem Ende der Owen-Erzaehlung findet. Dafuer bin ich Auster sehr dankbar, denn nichts lenkt mehr von einer emotionalen Erfahrung des Endes ab. Ein Ende, das empfunden werden moechte...

Eindeutig ein Hoehepunkt zeitgenoessischer Literatur, der viele Themen wie Vegangenheitsbewaeltigung, Schuld, Zukunftsaengste und Ohnmacht greifbar macht. Sehr empfehlenswert!
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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Re: Auster, Paul - Mann im Dunkel

Beitragvon chip » 14.08.2011, 20:24

Mit Auster bin ich fast immer im Zwiespalt. Er ist unterhaltsam und liest sich flüssig. Stadt aus Glas hat mich begeistert zurück gelassen, ebenso das Land der letzten Dinge, seitdem enttäuscht mich jeder weitere Auster. Dieses Buch enthält nette Einfälle, Geschichten, Bruchstellen. Es ist ein Sammelband kleiner Einfälle, die Auster in einem Band zusammengestellt hat. Sicher, über dem Ganzen stehen drei Menschen, die ihre jeweilige Vergangenheit aufarbeiten wollen, die aber eigentlich nur dazu dienen, den einzelnen Geschichten einen Rahmen zu schenken, damit sie nicht auseinanderfallen. Schade, manche dieser einzelnen Bruchstücke hätten Potential gehabt, um auf eigenen Beinen stehen zu können.
:stern: :stern: :stern:
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