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Becker, Jurek - Bronsteins Kinder




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Becker, Jurek - Bronsteins Kinder

Beitragvon chip » 02.02.2009, 11:20

Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters blickt Hans zurück auf die letzten gemeinsamen Ereignisse, eine Zeit, die seine moralisch-ethischen Grundsätze lahm legen und er getrieben wird, sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Ein gehemmter, zurückgezogener Jugendlicher ohne Freunde, der in eine Identitätskrise schlittert, ohne sich wirklich dessen bewusst zu sein. Als Jude auf nachkriegsdeutschem Boden lehnt er jede andersartige Behandlung ab, möchte nicht, dass zwischen sich und den deutschen Mitschülern unterschieden wird. Dabei kann es Deutschland sich nicht leisten, seinen Forderungen nachzukommen, lastet auf das Land doch eine immense Schuld, die durch etwaige Begünstigungen ans jüdische Volk abgetragen werden soll.

„Während er von dem Büro erzählt, an das die Opfer des Faschismus sich um Unterstützung wenden können, verfliegt meine Dankbarkeit […]
Er zählt auf, in welchen Angelegenheiten ihm selbst schon das Büro geholfen hat: bei Kuren, beim Autokauf, bei Urlaubsreisen. Sogar bei der Beschaffung einer neuen Geige. Da sollte es nicht möglich sein, für mich ein Zimmer aufzutreiben? Nach allem, was geschehen ist?"


Sein Vater Arno ist eines dieser Opfer, damaliger Häftling eines KZ. Als Hans sich mit seiner Freundin ins Wochenendhaus verabredet, ertappt er seinen Vater dabei, wie er mit Freunden einen ehemaligen KZ-Aufseher foltert, um aus ihm ein Geständnis zu erzwingen. Die Distanz zwischen sich und seinen Vater vergrößert sich, ein eisiger Wind beherrscht fortan die schon spröde Beziehung. Ein richtiges Gespräch über die bitteren Erlebnisse als Häftling hat nie stattgefunden, auch weil die Standpunkte beider grundverschieden sind. Und doch ist auch Hans ratlos, wie er mit der Entdeckung umgehen soll. Soll er seinen Vater anzeigen oder die Geißel befreien?

Aber war zwischen Tat und Gegentat nicht so viel Zeit vergangen, dass ein Affekt als mildernder Umstand nicht mehr in Frage kam? Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wird, mit sechzig zurückschlagen?

Jurek Becker hat den perfekten Ton getroffen, überzeugend verleiht er dem Jugendlichen eine Stimme, die Gelassenheit, Ausweglosigkeit und Verlassenheit ausstrahlt. Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen unterteilt mit Arnos Tod als Wendepunkt. Ein anschauliches Beispiel über Selbstjustiz und Anklage, über Schuld und Reue und über die Traumatisierung und seelischer Verwundung jüdischer Opfer.

„Aber ihr irrt euch. Ich bin nicht der Sohn eines Opfers des Faschismus.“
Gleichzeitig fragten beide: „Was bist du sonst?“ Und: „Hast du den Verstand verloren?“
„Als ich geboren wurde, war er längst kein Opfer mehr.“
„Das ist man sein Leben lang, mein Lieber“, sagt Lepschitz, „das wird man niemals los.“

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

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von Anzeige » 02.02.2009, 11:20

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Beitragvon tom » 02.02.2009, 17:18

Ganz toll, chip! Und ich sage mir erneut, dass der Herr Becker nicht mehr zu lange auf mein Lesen warten sollte!!!
tom
 

Beitragvon wolves » 03.02.2009, 08:36

Das sage ich mir auch gerade. Aber als erstes kommt mal "Jakob der Lügner" von ihm dran.
@chip: Tolle Rezi! :D
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon Karthause » 03.02.2009, 09:22

Jakob der Lüger liegt auf meinem SuB-Wettbewerbsstapel ganz oben. Vielleicht lese ich es in diesem Monat noch. Es ist allerdings ein re-read. Aber ich habe mehr Erinnerungen an die Filme als an das Buch. Ich muss es vor gefühlten 100 Jahren gelesen haben.
Viele Grüße
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Beitragvon chip » 03.02.2009, 10:22

@tom und wolves: Ich danke Euch, Becker hat mich positiv überrascht von dem ich in nächster Zukunft gewiss noch so einiges in Händen nehmen werde.

Gruß,
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