Krümels-Bücherwelt ...

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Brandt, Jan - Gegen die Welt




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Karthause » 21.02.2012, 14:24

Kurzbeschreibung (Quelle: amazon.de)
Ein Dorf in Ostfriesland, Kühe grasen auf den Wiesen, ab und zu zerreißt der Lärm eines Tieffliegers die Stille. Hinter den getrimmten Tujenhecken des Neubauviertels blühen die Blumen, in den Auffahrten glänzen frisch gewachste Neuwagen.
In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen
Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise, Hakenkreuze tauchen an den Hauswänden auf. Für all das wird Daniel Kuper verantwortlich gemacht. Und je mehr er versucht, die Vorwürfe zu entkräften, desto stärker verstrickt er sich in ihnen. Daniel Kuper beginnt einen Kampf gegen das Dorf und seine Bewohner. Sie sind es, gegen die er aufbegehrt, und sie sind es, gegen die er am Ende verliert. Gegen die Welt ist ein großer deutscher Roman: über die Wende in Westdeutschland, über Popkultur in der Provinz und über Freundschaften, die nie zu Ende gehen.

Meine Meinung
Jan Brandt erzählt in seinem beachtenswerten Debütroman die Geschichte des im fiktiven ostfriesischen Jericho lebenden Daniel Kuper. Der Leser begleitet Daniel rund 20 Jahre lang. Er sieht ihn aufwachsen, beobachtet ihn bei Jungenstreichen und begleitet ihn durch seinen Alltag. Durch häufige Perspektivwechsel ermöglicht es Jan Brandt dem Leser, das gesamte Umfeld des Jungen kennenzulernen und zu erfahren, wie er auf andere Menschen wirkt. Eigentlich ist er ein ganz normales Kind - mit ein bisschen viel Fantasie und nur wenigen Möglichkeiten, diese in die richtigen Bahnen zu lenken. So werden ihm von den Bewohnern Jericho’s schnell alle möglichen sonderbaren Ereignisse zur Last gelegt, Nazischmierereien, Schneefall im Sommer, Kornkreise. Je mehr er versucht, seine Unschuld zu beweisen, umso mehr zieht er die Verdachtsmomente auf sich. Er wird zum Außenseiter und wirkt schon wie ein junger Don Quichote, der einen Kampf gegen Windmühlenflügel oder auch gegen die Welt aufgenommen hat. Mit großer Liebe zum Detail, man kann es auch fast schon als Detailversessenheit nennen, beschreibt der Autor das Leben in der Kleinstadt, charakterisiert die Bewohner, bis man schlussendlich glaubt, man kenne die Gegend, ihre Menschen und wäre den Weg vom Bahnhof zur Drogerie Kuper selbst schon x-mal gegangen. Das mag einerseits ein Vorteil sein, denn es schafft Nähe, andererseits entstehen durch die Ausführlichkeit unweigerlich Längen, die den Lesefluss hemmen. Besonders die schier endlosen und im ganzen Roman vorkommenden Aufzählungen haben meinen guten Gesamteindruck doch etwas getrübt. Ungewohnt, weil unüblich, ist auch das Layout des Romans. Er beginnt und endet mit jeweils 6 unbedruckten Seiten. Andere Seiten sind nur zum Teil mit Text gefüllt. In einer ganzen Passage existieren in einem oberen und einem unteren Teil unterschiedliche Handlungsstränge. Dann wieder verblasst das Druckbild.
Ungezählte Male gibt es Verweise auf Musik, Bücher und Filme der damaligen Zeit. Das lässt das Buch authentisch wirken, denn der Leser begibt sich in Gedanken auf die gleiche Zeitebene wie die Protagonisten.
Für mich ist "Gegen die Welt" ein unkonventionelles, mutiges Buch, das die Experimentierfreudigkeit eines jungen Autors belegt, der zum Teil mit Althergebrachtem und literarischem Einerlei bricht. Trotz meiner Kritik wird Jan Brandt bei mir nicht in Vergessenheit geraten. Auf einen neuen Romanen von ihm bin ich sehr gespannt.

Über den Autor (Quelle: Dumont Verlag)
Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Seine Erzählungen sind in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im WOCHENENDE der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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Re: Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Coco » 13.03.2012, 09:44

Nach diesen 900 Seiten musste ich erst mal kräftig ausatmen!

Ein tolles Buch, aber vieles kann ich nicht so recht einordnen; einiges habe ich nicht verstanden, vielleicht habe ich Andeutungen hier auch einfach überlesen - insofern kein Buch, das man eben mal so "weg schmökern" kann.

Dennoch hätte ich ewig weiter lesen können, wie sich Jericho und seine Bewohner weiter entwickeln; wer mit wem, wer stirbt, wer bekommt Kinder, wer geht Pleite, was verändert sich ... Fast wie daheim in der Kleinstadt aus der ich komme. Dies war für mich auch das Starke an diesem Buch; weniger die Geschichte um Daniel. Um ehrlich zu sein ging mir seine ewige Opferrolle die meiste Zeit ziemlich auf die Nerven. Interessanter waren die Entwicklungen der Eltern, der Freunde, der Nachbarn. Mich haben übrigens die detaillierten Berichte überhaupt nicht gestört, ich hätte noch ewig weiter lesen können, was es alles in der Drogerie zu kaufen gibt usw.

8 Jahre hat Jan Brandt an diesem Roman geschrieben. Es scheint mir, als habe er sich doch hie und da etwas verrannt. Ich bin froh, dass er ihn jetzt geschrieben hat, in weiteren 8 Jahren hätte ich wahrscheinlich gar nichts mehr verstanden. Hmm, da er jetzt seine Kindheit und Jugend in einer Kleinstadt literarisch verarbeitet hat - und dich hatte oft das Gefühl, das muss aus ihm raus - , bin ich sehr gespannt, ob es ein weiteres Werk von ihm geben und wenn ja, worüber er schreiben wird.
Also ich würde es lesen!

Alles in allem hätte dieses Buch, meiner Meinung nach, inhaltlich, sprachlich und wg. der tollen Aufmachung des Buches den "Deutschen Buchpreis 2011" eindeutig eher verdient als Eugen Ruges Werk.

:stern: :stern: :stern: :stern: / :stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
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Re: Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Karthause » 13.03.2012, 10:45

@Coco
Ja, "Gegen die Welt" war wirklich ein gutes Buch. Allerdings hat mir der Ruge einen Tick besser gefallen. Ich habe gerade mal überlegt, warum das so sein könnte. Jan Brandt schreibt von Daniels Kindheit und Jugend in Jericho. Damit ist er mit seinem Roman im Westen Deutschlands. Viele Dinge (Filme, Musik, Bücher), die direkt benennt, kenne ich hauptsächlich vom Titel her. Ruge erzählt seine Geschichte, die im Osten angesiedelt ist, damit kann ich mehr anfangen. Ich verstehe viele kleine Anspielungen, die ich bei Brandt überlesen oder nicht verstanden habe. Ich glaube, das ist der kleine Unterschied zwischen unserem Empfinden der beiden Bücher.
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Karthause

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Re: Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Krümel » 13.03.2012, 11:34

Karthause hat geschrieben: Jan Brandt schreibt von Daniels Kindheit und Jugend in Jericho. Damit ist er mit seinem Roman im Westen Deutschlands. Viele Dinge (Filme, Musik, Bücher), die direkt benennt, kenne ich hauptsächlich vom Titel her. Ruge erzählt seine Geschichte, die im Osten angesiedelt ist, damit kann ich mehr anfangen.


Hah, genau! Das könnte auch der Grund dafür sein, dass ich den Brandt dem Ruge vorziehe :thumleft:
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Re: Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Coco » 13.03.2012, 14:35

Ja, das könnte tatsächlich sein :D

Wobei mir das jetzt weniger um die Wiederbelebung der 80er-Jahre geht: Dallas, Musik, Bücher, Fussball usw., sondern ich finde einfach grandios wie der die Verstrickungen, Machenschaften in einer Kleinstadt darstellt; die Freundschaften (... wenn auch aus Mangel an Gelegenheit oft aus der Not geboren), den Männergesangsverein, die Skat-Runde, die ständige Angst, seine Kunden zu verlieren und die Unzulänglichkeiten einzelner Bewohner, denen man in dieser Enge nicht entfliehen kann.

Ruges Buch fand ich daneben blass .... aber wir vergeben den Deutschen Buchpreis ja nicht.
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Re: Brandt, Jan - Gegen die Welt

Beitragvon Krümel » 05.04.2012, 12:03

Vielleicht sollte ich zunächst einmal ein wenig ausholen, und die Geschichte des Josua aus dem AT erwähnen. - Nach dem Tod von Moses wurde Josua sein Nachfolger, und wieder einmal wurde die Stadt „Jericho“ in Schutt und Asche gelegt. Es wurde gemordet, die Stadt wurde ausgeraubt und von Josua verflucht: „Verflucht sei, wer sich aufmacht, wer ihren Grund legt, dem soll der älteste Sohn sterben.“ Nebenbei sei auch noch erwähnt, dass Josua zuvor dem Tanz um das goldene Kalb als Diener von Moses, beiwohnte.
Und dann schreibe ich auch gleich, dass im „Buch Daniel“ die Geschichte des Sehers Daniel beschreibt >>„Sie enthalten u. a. umfangreiche Zahlenmystik, Symbolbilder und Metaphern, die auf die Endzeit gerichtet sind und in der Offenbarung des Johannes aufgegriffen werden.<< (wiki Buch Daniel)

So jetzt zum Buch!

Der Protagonist Daniel ist ein sonderlicher Junge. Er hat eine glänzende Phantasie, ist gerne für sich allein und schreibt seine Geschichten nieder. Richtig gute Freunde hat er nicht, wohl auch, weil er sich mit Ausgegrenzten beschäftigt. Neben Peter sitzt er in der Schule und mit Volker, dem Dickerchen, spielt er nach der Schule, das wird ein wenig geheim gehalten. Die Rabauken der Schule Eisen & Co. haben aus diesem Grund Daniel ganz oben auf ihrer Liste für Schikanen stehen.

Dann kommt der Tag in dem es in „Jericho“ (unsere fiktive Stadt Leer in Ostfriesland) mitten im September schneit, ein Maiskreis im Maisfeld entsteht und Daniel nur mit einem Handtuch bedeckt sowie mit zahlreichen blauen Flecken und einem Schleudertrauma verspätet nach Hause kommt.

Daniel wird verflucht und das gleich dreimal: Einmal von der Gemeinde als Unheilsbringer im Maisfeld, etwas später sogar vom Pastor, und letzlich von Peter mit den Worten „Du auch“.

Aber wie gesagt der ganze Ort „Jericho“ ist verflucht von Josua. Die ältesten Söhne werden sterben, denn das goldene Kalb tanzt wieder in der Gemeinde, denn der braune Rosing baut die Stadt wieder auf …

Das Buch ist genial! Noch nie habe ich so ein spannendes und zugleich auch noch ein so intelligentes Buch gelesen! Wirklich ein Ereignis und kein Debüt! Es ist ja noch nicht einmal der biblische Rahmen, der das Besondere ausmacht, nein der Stil des Buches mit unterteilten Ebenen, leeren Seiten und sehr schwach bedruckten Absätzen bringen zudem noch viel Atmosphäre ein. Außerdem wird der Leser in die Zeit der 80er katapultiert mit Fondor, Tschernobyl und dem Original Parker. Wie in einem Sog liest man die 900 Seiten runter wie nichts. Danach bleibt nur noch das Warten auf neuen Stoff, den uns Jan Brandt hoffentlich schnell vorlegt! (Obwohl, an diesem Buch hat er Jahre geschrieben.)

Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland) und studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Seine Erzählungen sind in der FAZ sowie SZ erschienen. „Gegen die Welt“ ist sein erster Roman.

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